Der Tod meiner Schwester
neu?, fragte ich mich. Hatte sie Probleme mit der Hüfte, die ihr manchmal zu schaffen gemacht hatte? Ich erinnerte mich an Ethans Bemerkung über das Altern seines Vaters und verstand, wie er sich fühlte.
Meine Mutter legte die Blumen zusammen mit der Gartenschere vorsichtig auf der Glasplatte des Tisches ab, setzte sich und zog die Gartenhandschuhe aus.
“Nun?” Sie blickte mich erwartungsvoll an.
“Erinnerst du dich, dass ich vor ein paar Wochen Ethan Chapman zum Lunch traf?”
Sie nickte. “Selbstverständlich.”
“Und du weißt, dass sein Bruder Ned gestorben ist, oder?” Ich war nicht sicher, ob Mr. Chapman meiner Mutter davon erzählt hatte oder nicht.
Sie nickte erneut und schwieg.
“Nun, als Ethan und seine Tochter Neds Haus ausgeräumt haben, fanden sie einen Brief, den Ned an die Polizei von Point Pleasant adressiert, aber niemals abgeschickt hatte.”
Meine Mutter runzelte die Stirn. “Und was stand drin?”
Also los, spornte ich mich an. “Darin stand, dass der falsche Mann für den Mord an Isabel ins Gefängnis gegangen sei und dass er, Ned, die Sache richtigstellen wolle.”
Meine Mutter war wie erstarrt, als hätte sie der Schlag getroffen. Ihre Augen bohrten sich in meine, und während sie schweigend das Gesagte verarbeitete, erinnerte ich mich daran, dass sie mich an Isabels Todestag geohrfeigt hatte. Es war das einzige Mal, dass einer meiner Eltern mich geschlagen hatte. Allein schon bei der Erinnerung daran brannte meine Wange.
“Ned hat es getan?”, fragte sie schließlich. “Doch Ross sagte, er wäre –”
“Niemand weiß genau, wer es getan hat”, fiel ich ihr rasch ins Wort. “Ned hat in seinem Brief kein Geständnis abgelegt.” Ich nahm die Sonnenbrille ab und rieb mir die Augen. “Ich halte es für wahrscheinlich, dass er es getan hat, Mom. Ich meine, das ergibt am ehesten einen Sinn. Doch Ethan kann nicht glauben, dass Ned so etwas getan haben könnte, und die Polizei nimmt jeden unter die Lupe. Vielleicht werden sie auch mit dir sprechen wollen. Ich hoffe es nicht, doch es könnte sein.”
Meine Mutter blickte in den Gemüsegarten, wo die Tomaten reiften und die Zucchini-Pflanzen wucherten. Doch ich wusste, dass sie nichts davon wahrnahm. Ihr Geist war irgendwo anders.
“Es tut mir leid, Mom.” Ich wusste nicht genau, wofür ich mich entschuldigte. Dafür, dass ich ihr von dem Brief erzählt hatte. Dass Isabel ermordet worden war. Für alles.
“George Lewis war unschuldig?”, fragte sie, als ob ich es genau wüsste.
“Der Brief klingt danach”, erwiderte ich.
Sie starrte mich weiter an, und ich war nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was ich gesagt hatte. Dann erhob sie sich langsam. “Ich werde ein Nickerchen machen”, verkündete sie, während sie sich ein paar kleine Blätter vom Overall strich.
“Bist du in Ordnung?”, fragte ich verwundert.
Sie antwortete nicht, sodass ich aufstand und auf sie zutrat, doch sie hob abwehrend die Hand.
“Es geht mir gut”, sagte sie. “Dies alles macht mich nur so müde. Es ist so …” Sie blickte mich an. “Du verlierst ein Kind, und sie sorgen dafür, dass du es immer wieder verlierst. Wieder und wieder und wieder …” Ihre Stimme erstarb, als sie sich abwandte. Ich wusste nicht genau, was ich tun sollte. Sollte ich ihr ins Haus folgen? Mich vergewissern, dass sie wohlauf war? Doch ganz offensichtlich wollte sie allein sein. Das würde ich ihr zumindest eine Zeit lang gestatten. Ich nahm die Gartenschere und ging hinüber zu den Hortensienbüschen.
26. KAPITEL
M aria
Ich konnte nicht glauben, was geschah.
Urplötzlich kamen Ereignisse, die ich seit über vierzig Jahren versuchte ruhen zu lassen, auf abscheuliche Weise zurück. Meine Isabel. Ich hatte sie so enttäuscht. Wenn ich doch nur eine bessere Mutter gewesen wäre. Wenn ich nur gewusst hätte, wie ich mit ihrer Rebellion umgehen sollte.
Gab es in den letzten einundvierzig Jahren auch nur einen Tag, an dem ich mir nicht ihre letzten Momente vorgestellt hatte? So hatte ich es mir in den ganzen Jahren ausgemalt: Isabel war in der Bucht. Sie saß in der Dunkelheit allein auf der Plattform, voller Erwartung, dass Ned gleich zu ihr kommen würde. Dann tauchte der schwarze Junge, George Lewis, am Strand auf und schwamm hinaus zu ihr. Als Nächstes kam der Teil, den ich nie verstand. Isabel war eine hervorragende Schwimmerin. Warum sprang sie nicht ins Wasser, um ihm zu entkommen? Warum schwamm sie nicht zum Strand oder zum Pier oder …
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