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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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was weiß ich. Vielleicht sah sie ihn auch nicht. Vielleicht glitt er so lautlos durchs Wasser, dass sie ihn nicht bemerkte, bis er zur ihr auf die Plattform kletterte. Sie hatte blaue Flecken an den Armen gehabt. Hatte er versucht, sie zu vergewaltigen? Sprang sie ins Wasser, um ihm zu entkommen? Schlug sie mit dem Kopf an die Plattform, oder zog er ihr eine Waffe über den Kopf? Ich wusste es nicht. Ich konnte es nicht wissen. Ich wusste nur, dass mein Baby Todesangst gehabt haben musste. Mein kleines Mädchen hatte so sehr versucht, sich wie eine Frau zu verhalten und erwachsen zu sein und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, auch wenn es die falschen waren. Sie hielt sich für unabhängig und auf dem besten Weg, sich von mir und meinen Regeln zu befreien. Ich war sicher, dass sie in jenem Moment auf der Plattform wieder das wunderbare unschuldige Kind war, das ich in einem Hüfttuch mit mir herumgetragen hatte. Das kleine Mädchen, das mich Mommy nannte und mich für den Mittelpunkt der Welt hielt.
    Immer wenn ich an ihre letzten Sekunden dachte, spürte ich in meiner Brust ihre herzzerreißende Angst und entsetzliche Panik. Ich wollte dann schreien und gegen die Wände schlagen. Einmal brachte mich diese Angst dazu, meine kleine Tochter Julie zu schlagen. Es war schlimm, zuzugeben, dass ich eines meiner Kinder hasste, doch für ein paar Tage hasste ich Julie für ihre Rolle, die sie bei Isabels Tod gespielt hatte. Doch kurz darauf erkannte ich, dass ich mich selbst verabscheute. Damals aber bekam Julie die volle Wucht ab. Das ganze Ausmaß meiner Trauer.
    Irgendwann in den letzten einundvierzig Jahren konnte ich eine Art Frieden mit jener Nacht schließen. Frieden ist vielleicht das falsche Wort, doch zumindest war ich in der Lage, mit dem Geschehenen und mit meinen Unzulänglichkeiten als Mutter zu leben. Ich vergab Charles seine Nachgiebigkeit mit Isabel, und ich schöpfte Trost aus dem Wissen, dass der Kerl, der für ihren Tod und diese letzten schrecklichen Minuten in ihrem Leben verantwortlich war, im Gefängnis verrottete. Ich verspürte großen Hass auf George Lewis, und dieser Hass erstreckte sich auf jeden schwarzen Mann, noch bevor mein Intellekt sich einschalten und mich daran erinnern konnte, dass Lewis für sich allein gehandelt hatte und nicht als Repräsentant seiner Rasse oder seines Geschlechts. Und nun schien der ganze Hass, den ich auf ihn gerichtet hatte, ungerechtfertigt gewesen zu sein.
    Hatte Ned Isabel ermordet? Das legte jedenfalls der Brief nahe, den er der Polizei geschrieben hatte. Was sonst konnte er bedeuten? Ich glaube, dass er Isabel so sehr liebte, wie ein achtzehnjähriger Junge eben ein siebzehnjähriges Mädchen lieben kann, und deshalb musste ich von einem Unfall ausgehen, für den er niemals die Verantwortung übernahm. Auf gewisse Weise tröstete mich diese Erklärung, weil Izzy dann mit jemandem zusammen gewesen war, den sie liebte und dem sie vertraute, sodass sie als letztes Gefühl nicht Furcht empfunden hatte. Doch wenn es tatsächlich Ned gewesen war, musste Ross ihm ein falsches Alibi gegeben haben.
    Meine Gedanken überschlugen sich, als ich mir auszumalen versuchte, was wirklich geschehen war. Julie hatte gesagt, dass die Polizei vielleicht mit mir sprechen wollte. Wie ich das überstehen sollte, wusste ich nicht. Ich würde ihnen sagen, dass ich eine schlechte Mutter gewesen war, die nicht wusste, wie sie ihre Teenager-Tochter erziehen sollte. Ich würde ihnen sagen, dass ich eifersüchtig darauf war, wie mein Mann sie anbetete, und dass diese Eifersucht vielleicht mein Verhalten ihr gegenüber beeinflusste. Und ich hätte das Bedürfnis, ihnen meinerseits Fragen zu stellen, würde es aber niemals tun. Meine Fragen würden bei ihnen wahrscheinlich nur noch mehr Fragen auslösen, und dazu hatte ich zu viel zu verbergen.

27. KAPITEL
    J ulie
    Niemals hatte ich mich mehr als Teil der sogenannten Sandwich-Generation gefühlt wie an dem Tag, als ich meiner Mutter von Neds Brief erzählte. Ich war eine Frau mittleren Alters, die zwischen der Sorge um ihre alternde Mutter und den Herausforderungen im Umgang mit ihrem Kind gefangen war. Ich hatte Angst, dass ich beide enttäuschen würde – oder dass ich das schon längst getan hatte.
    Nachdem ich Unmengen von Hortensien ins Haus gebracht und sie in Wohnzimmer und Küche auf Vasen verteilt hatte, klopfte ich an die Schlafzimmertür.
    “Mom?” Ich lauschte. “Bist du in Ordnung?”
    “Alles klar”, sagte sie.

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