Der Tod meiner Schwester
Schultern waren ebenso breit, und er benutzte sogar das gleiche Aftershave wie Ross. Ich sog den Duft tief ein, als ich meinen Kopf an seine Schulter legte, und war den Tränen nahe, weil ich meinen Geliebten vermisste.
Nach einigen Minuten beugte er sich ein wenig zurück. “Ist irgendwas los?”
Ich begann zu weinen. Er nahm meine Hand und führte mich nach draußen. Wir setzten uns auf die Vordertreppe, hinter uns erklangen die Musik und Partygeräusche.
“Was bringt ein schönes Mädchen wie dich zum Weinen?”, fragte er.
“Es tut mir leid”, schluchzte ich und griff zu einer Lüge, weil es die einzige Möglichkeit war, meine Traurigkeit zu erklären. “Ich habe mich vor Kurzem von jemandem getrennt.”
“Und du liebst ihn noch immer”, vermutete Charles.
Ich nickte.
“Das ist mir auch passiert.” Er reichte mir sein Taschentuch.
“Vor Kurzem?”, fragte ich und betupfte mir die Augen. Er war sehr attraktiv. Im Schein der Gaslampe konnte ich erkennen, dass er Ross nicht wirklich ähnelte. Er hatte leider braune Haare, wohingegen Ross blond war. Seine Augen waren ebenfalls braun, die von Ross dagegen grau. Doch er sah ebenso gut aus, und als wir dort saßen, fühlte ich mich noch immer zu ihm hingezogen.
“Wir haben uns schon vor einer Weile getrennt”, erzählte er. “Als ich auf Hawaii stationiert war.”
“Hawaii?” Ich dachte an sein Hinken. “Warst du in Pearl Harbour, als …?”
Er nickte. “Dort habe ich mir das steife Bein geholt.” Er rieb über seinen rechten Oberschenkel.
“Das muss furchtbar gewesen sein!”
“Für viele andere war es noch wesentlich schlimmer als für mich”, entgegnete er. “Ich wollte wieder hin, doch sie lassen mich nicht. Ich finde es schrecklich, mich hier nutzlos zu fühlen.”
“Aber du gehst jetzt aufs College”, sagte ich und bewunderte seinen Patriotismus. “Das ist keineswegs nutzlos. Was studierst du?”
“Medizin.”
“Oh!” Ich war beeindruckt. “Du willst Arzt werden.”
“Das wollte ich immer”, bekräftigte er. “Ich dachte, dieser Wunsch müsse warten, bis der Krieg vorbei ist – wenn er das je sein wird –, doch ich schätze, das ist der Vorteil einer Verletzung. Nun steht mein Traum vor der Erfüllung. Wie ist es bei dir?”
“Das hier ist mein Abschlussjahr”, erwiderte ich. “Ich werde Lehrerin.”
“Das ist wundervoll”, freute er sich, als ob ich ebenfalls vorhätte, Medizin zu studieren. “Wolltest du schon immer Lehrerin werden?”
“Nun …” Ich lächelte. “Eigentlich wollte ich immer eine Familie haben, doch ich halte es für wichtig, dass Frauen für sich selbst sorgen können.”
Er nickte. “Du bist ein sehr kluges Mädchen. Ich möchte ebenfalls eine Familie gründen, will aber sicher sein, dass ich gut für sie sorgen kann.”
Welch ein bemerkenswerter Mann, dachte ich. Es gefiel mir, dass er meine Berufswahl ernst nahm. Ross hatte mein Studium belächelt, als ob es völlig belanglos sei.
Ich glättete meinen Rock und schlang die Arme um die Knie. “Was für ein Arzt willst du werden?”
“Kinderarzt”, antwortete er. “Als Junge war ich sehr krank, und damals entschied ich mich dafür.”
“Dann haben wir also beide Berufe gewählt, in denen wir Kindern helfen werden.”
Er wirkte plötzlich aufgeregt, wandte sich mir zu und griff nach meiner Hand. “Maria”, sagte er. “Du musst mir auf der Stelle etwas sagen.”
“Was?”
“Bitte sag mir, dass du katholisch bist.”
Ich lachte. “Das bin ich. Aber warum?”
“Weil ich mich in den dreißig Minuten, seit ich dich dort drinnen zum ersten Mal gesehen habe, in dich verliebt habe”, gestand er. “Und dass du katholisch bist, macht es so viel einfacher. Möchtest du mich vielleicht morgen zur Messe begleiten? Danach könnten wir lunchen gehen.”
Mir gefiel seine Impulsivität. Sie war erregend, und ich musste zugeben, dass ich mich zu einer Frau entwickelt hatte, die Erregung brauchte. Dennoch fand in mir ein merkwürdiger Kampf statt. Erst vor zwei Tagen hatte ich heimlich mit einem Mann geschlafen. Nun wurde ich zu einer Messe eingeladen. Meine Familie war tatsächlich katholisch, doch wir waren Gelegenheitskatholiken, die nur Weihnachten und Ostern und selten zwischendurch in die Kirche gingen. Ich hatte das Gefühl, als ob Gott selbst nun in mein Leben eingriff. Er bot mir die Gelegenheit zur Kehrtwende und zur Beendigung meines betrügerischen und unmoralischen Verhaltens. Ich spürte, wie die Trauer über
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