Der Tod meiner Schwester
den Verlust von Ross sich in eine Art Erleichterung und Dankbarkeit verwandelte. Dieser wunderbare Mann, Charles Bauer, der für sein Land gekämpft hatte und Arzt werden und eine Familie gründen wollte, konnte mich vielleicht vor mir selbst retten.
“Das würde ich gern”, sagte ich.
“Oh, wie schön!”, rief er mit einer Begeisterung, die ich an ihm noch schätzen lernte. “War dein Freund auch Katholik?”
“Ja, aber nicht strenggläubig”, antwortete ich. Was für eine Untertreibung.
“Dann war es von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Mädchen, mit dem ich letztes Jahr Schluss gemacht habe, war Methodistin. Meine Eltern hätten nicht einmal mit ihr gesprochen. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht gut gehen kann. Der Moralkodex ist einfach zu unterschiedlich, weißt du.”
Ich nickte, auch wenn ich absolut nicht wusste, was er meinte.
“Sie war … zu schnell, wenn du weißt, was ich meine”, fuhr er fort. “Ich fand heraus, dass sie … du weißt schon, dass sie ein
Verhältnis
gehabt hatte mit dem Jungen, mit dem sie vor mir zusammen war, und es machte mich krank, überhaupt daran zu denken.”
In dem Moment wusste ich, dass ich diese Beziehung mit einer Lüge beginnen würde. Ich würde Charles niemals die Wahrheit über Ross und mich erzählen. Nur ein paar meiner Freundinnen wussten von Ross, also würde es relativ leicht sein, die Sache geheim zu halten. Dennoch dachte ich, dass es besser wäre, meine Abstammung zur Sprache zu bringen, bevor sich die Dinge weiterentwickelten.
“Ich bin zur Hälfte Italienerin.”
“Das dachte ich mir.” Er berührte mein Haar. “Du hast dieses dichte italienische Haar und diese großen dunklen Augen.” Es schien ihn nicht im Geringsten zu stören.
Charles und ich gingen am nächsten Tag zur Messe, und ich sah meine Religion in neuem Licht. Ich spürte den Frieden, der ihn innerhalb der Kirche überkam. Der Geruch von Weihrauch, das ritualisierte Aufstehen und Hinknien, die eindringlichen lateinischen Gesänge und der Geschmack der Hostie auf meiner Zunge ergriffen mich wie nie zuvor. Ich dankte Gott, dass er mir diese zweite Chance geschenkt hatte.
Als wir die Kirche verlassen hatten und wieder im Auto saßen, wandte sich Charles mir zu. “Bist du in Ordnung?”
Ich nickte und fragte mich, woher er wusste, welchen Eindruck die Messe auf mich gemacht hatte. “Beim Gottesdienst war ich noch nie mit …” Ich wollte “meinem Freund” sagen, doch es schien zu früh dafür. “Mit einer Verabredung”, beendete ich den Satz.
“Du bist nie mit deinem Freund in der Kirche gewesen?”, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
“Ich verstehe”, sagte er lächelnd. “Darum hätte es auch nie funktionieren können mit meiner alten Freundin und deinem alten Freund. Sie hätten dort drin Däumchen gedreht und das Ende kaum erwarten können.”
Wir verliebten uns rasch. Ich glaube, ich hatte mich schon an jenem Abend vor dem Haus der Studentenverbindung in ihn verliebt. Meine Beziehung zu Ross wurde mir allmählich immer klarer: Sie basierte auf der körperlichen Anziehung und dem Reiz des Verbotenen und auf wenig mehr. Dies hier war so anders. Charles lernte meine Eltern kennen, die ihn sofort vergötterten und sogar mit uns zum Gottesdienst gingen, als wir zum ersten Mal bei ihnen waren. Charles und mein Vater waren beide Fans der New York Yankees, und meine Mutter schwärmte immer, dass ich solch einen wunderbaren Mann gefunden hatte.
“Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht”, gestand sie mir mit ihrem melodiösen italienischen Akzent.
“Warum?”, fragte ich überrascht.
“Weil du immer von einem Jungen zum anderen gehuscht bist. Nie bist du bei einem von ihnen länger geblieben. Das hat mir Sorgen gemacht.”
“Du musst dich nicht sorgen”, erwiderte ich lächelnd. “Ich habe nur auf den Richtigen gewartet.”
Meine Beziehung mit Charles war völlig keusch. Seine Küsse waren voller Leidenschaft, doch wenn sich seine Hände in Richtung meiner Brüste oder meiner Oberschenkel verirrten, zog er sie entschuldigend zurück. Ich sehnte mich nach mehr und fand dieses Sehnen aufregend. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihm etwas verschwiegen hatte. Er dachte, ich wäre Jungfrau, und es gab keinen Grund, ihm etwas anderes zu sagen. Die Lüge war so kompromisslos, dass ich mich sogar selbst bald als jungfräulich ansah.
Am Ostersonntag 1943 bat Charles mich, ihn zu heiraten. Natürlich sagte ich Ja, doch als der Sommer
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