Der Tod meiner Schwester
wünschte mir meine Enkelin als Teil meines Lebens. Ich liebte es, wenn sie bei McDonald’s vorbeikam, um nur rasch Hallo zu sagen. Wie viele Jahre hatte ich noch? Wann würde ich sie jemals zu Gesicht bekommen, wenn sie ans andere Ende des Landes zog? Doch ich hatte mich rasch wieder im Griff.
“Ich sag dir was, Shannie”, begann ich und benutzte den Kosenamen, den ich ihr als Säugling gegeben hatte. “Falls aus diesen Plänen nichts wird und du doch hier bleibst, spiele ich gerne den Babysitter.”
Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. Dann lächelte sie. “Nana”, sagte sie gerührt. “Ich liebe dich.”
“Ich liebe dich auch, Kleines.”
Sie schob ihren Big Mac zur Seite. “Ich glaube, ich sollte mir lieber einen Salat holen”, meinte sie und stand auf. Ich befahl ihr, sich wieder hinzusetzen, und ging dann hinter den Tresen, um ihr den gesündesten Salat zu holen, den wir hatten.
Als ich an jenem Nachmittag später nach Hause fuhr, fühlte ich mich gut damit, wie ich mit Shannon umgegangen war. Ich glaubte, dass ich ihr das gegeben hatte, was sie brauchte – Liebe und Freundlichkeit, ohne sie zu verurteilen. Das hätte auch Isabel gebraucht, doch nichts davon hatte sie von mir bekommen.
Meine gute Laune verflog, als ich ins Haus kam. Das Telefon klingelte, und als ich mich meldete, war es schon wieder Ross Chapman.
“Maria …” Selbst dieses eine Wort auszusprechen schien ihm große Mühe zu bereiten. Die drei Silben klangen langsam und traurig. “Hat deine Tochter dir erzählt, was geschehen ist?”
Ich schloss die Augen. Ich war über die Maßen zornig auf ihn. Ich glaubte, dass er für seinen Sohn gelogen hatte und nun um meine Vergebung bat, doch die würde er nie bekommen.
“Du meinst, ob sie mir von Neds Eingeständnis seiner Schuld erzählt hat?”, gab ich zurück und legte dann auf. Ich hatte es schon einmal zugelassen, dass dieser Mann mit mir spielte. Das sollte nie wieder geschehen.
1942–1944
Als ich am ersten Tag meines Abschlussjahrs am New Jersey Mädchen-College in New Brunswick ankam, konnte ich noch Ross’ Küsse in meinem Mund und seine Hände auf meinen Brüsten spüren. Wir hatten uns in jenem Sommer immer riskanter verhalten, wobei wir uns beide mit diversen anderen trafen, um zu vermeiden, dass es einen Favoriten gab, wie mir das mit Fred passiert war. Viele der jungen Männer, darunter auch Fred, kämpften zu jener Zeit im Krieg, sodass Ross deutlich mehr Auswahl für ein Date hatte als ich, doch ich tat mein Bestes. Ross war zwar zum Wehrdienst einberufen worden, doch bei der körperlichen Untersuchung hatte man ein kleineres Herzproblem entdeckt und ihn zurückgestellt. Obwohl ich sehr patriotisch war und fand, dass jeder seinen Teil zum Krieg beitragen sollte, war ich erleichtert, dass er nicht gehen musste.
Meine Eltern hatten sich mittlerweile mit einem anderen Paar in Bay Head Shores angefreundet und gingen oft zu ihnen zum Bridgespielen, sodass unser Bungalow verlassen war. Sobald ich wusste, dass sie fort sein würden, sagten Ross und ich jede Verabredung für den betreffenden Abend ab. Wir hatten das ganze Haus für uns allein und konnten in Ruhe unseren Hunger aufeinander stillen. Der ganze Sommer war erfüllt gewesen von Lug und Trug und einer heftigen körperlichen Leidenschaft. Am letzten Abend an der Küste konnte ich mich kaum von ihm fortreißen.
Am Abend meiner Ankunft feierte die Studentenverbindung ein paar Häuser weiter eine “Willkommen zurück”-Party. Ich ging mit ein paar Freundinnen hin, die ganz begierig darauf waren, ein paar Jungen von der Rutgers University kennenzulernen, auch wenn es sich bei den meisten um “Zurückgestellte” handelte. Doch ich war nicht mit dem Herzen dabei. Ich lehnte in einem Türrahmen, vermisste Ross und schrieb ihm in Gedanken schon einen Brief, als ein junger Mann auf mich zukam. Er hinkte stark, und irgendetwas an seinen Augen erinnerte mich an Ross. Eine andere Erklärung hatte ich nicht für die plötzliche, fiebrige Anziehung, die ich für ihn empfand. Er stellte sich mir als Charles Bauer vor.
“Ein hübsches Mädchen wie du sollte hier nicht alleine herumstehen”, fand er. “Möchtest du tanzen?”
“Gerne”, erwiderte ich und ließ mich von ihm umfangen. Wegen seines Hinkens war er ein schwerfälliger Tänzer, doch er schien deswegen kein bisschen gehemmt, und mir machte es nichts aus, weil er sich in meinen Armen wie Ross anfühlte. Er hatte die gleiche Größe, die
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