Der Tod meiner Schwester
antwortete sie. “Ich glaube, ich werde nach Hause gehen.”
Sie war die zwei Blocks von ihrem Haus zu Fuß gegangen. Es war noch immer relativ hell draußen, doch ich wollte sie nicht allein nach Hause gehen lassen, wenn sie sich nicht wohlfühlte. Ich blickte ihr prüfend ins Gesicht – es hatte den üblichen gesunden Olivton, der durch ihren häufigen Aufenthalt im Garten ein bisschen ins Rötliche spielte.
“Mach doch hier ein kleines Nickerchen, und einer von uns fährt dich später nach Hause”, schlug ich vor.
“In Ordnung”, willigte sie ein und verschloss das Plastikschälchen, das sie gerade befüllt hatte. Ich war überrascht, dass sie sich ohne den geringsten Protest einverstanden erklärte.
“Tschüss, Nana!” Shannon, die von dem Gespräch nichts mitbekommen hatte, drängte sich zwischen uns, um ihre Großmutter zu umarmen. “Wir müssen los.”
“Auf Wiedersehen, Darling.” Meine Mutter drückte Shannon fest und küsste sie auf die Wange.
Wir alle verabschiedeten das Paar, wobei Lucy die Einzige war, die eine aufrichtige Umarmung für Tanner übrig hatte. Kaum waren sie fort, wandte ich mich wieder an meine Mutter.
“Du kannst mein Zimmer haben”, bot ich an. Ich fühlte mich an jenen Tag erinnert, an dem ich ihr von Neds Brief erzählt hatte. Sie zeigte die gleiche Reaktion. “Soll ich mitkommen?”
Meine Mutter gab keine Antwort. Sie stand mitten in der Küche und schüttelte langsam den Kopf. Es machte mir Angst.
“Mom?”, fragte ich mit so viel Sorge in der Stimme, dass Lucy und Ethan sich zu uns umdrehten.
“Niemand verlor auch nur ein Wort über Shannon und ihr Cello”, sagte meine Mutter. Tränen standen ihr in den Augen. “Seit das Mädchen sprechen kann, hat sie immer die Musik geliebt. Und heute Abend war es so, als würde dieser Teil ihrer Persönlichkeit gar nicht mehr existieren.” Sie deutete auf die Tür, durch die Shannon und Tanner verschwunden waren. “Dieser Junge kümmert sich nur um sich selbst und seine … Nazi-Kinder oder was auch immer sie sind.” Sie wedelte mit der Hand durch die Luft. “Ich wette, dass er sie noch nie gebeten hat, ihm etwas vorzuspielen.”
Lucy wollte ihr einen Arm um die Schulter legen, doch sie schob sie beiseite.
“Ich bin müde, Lucy. Ich werde mich hinlegen. Vielleicht kannst du mich später nach Hause fahren.”
“Natürlich”, erklärte Lucy sich einverstanden.
Ethan kam zu mir, und gemeinsam sahen wir zu, wie meine Mutter im Flur verschwand.
“Puh!” Lucy seufzte tief. “Was ist los mir ihr?”
Ich erinnerte mich an Shannon als kleines Mädchen. Nie wollte sie den lustigen kleinen Liedern lauschen, die andere Kinder so gerne hörten. Sie stand auf Hip-Hop und Rap. “Ich will YoMaMa hören”, verlangte sie immer, worauf Glen und ich vor Lachen fast zusammenbrachen.
“Sie hat recht”, sagte ich. “Keiner verlor ein Wort darüber.”
35. KAPITEL
M aria
1944
Date Rape.
Ich kenne viele Menschen meines Alters, die den Ausdruck belächeln und Date Rape für eine Ausrede halten, um dem Jungen die Schuld zu geben, wenn das Mädchen sein Tun später bereut. Ich aber konnte mit dem Begriff sofort etwas anfangen, denn er linderte meine Schuldgefühle wegen dem, was gegen Ende des Sommers 1944 geschah.
Es war der erste Sommer, in dem Charles an den Werktagen in unserem neuen Haus in Westfield wohnte, während ich bei meinen Eltern im Bungalow blieb. Charles absolvierte in einem Veteranen-Krankenhaus seine Facharzt-Ausbildung. Er hatte dies einer Karriere als Kinderarzt vorgezogen, weil er davon erfüllt war, seinem Land auf jede erdenkliche Weise dienen zu wollen. Der Krieg durchdrang unser ganzes Leben – von den ständigen Nachrichten im Radio bis zur Rationierung unseres Essens, des Benzins und fast allem anderen, das wir zum Leben brauchten.
Ich hatte überlegt, bei Charles in Westfield zu bleiben und ebenso wie er nur an den Wochenenden zum Bungalow zu fahren, doch er sagte, es wäre wenig sinnvoll für mich, in der Hitze der Vororte zu bleiben, wenn er kaum Zeit für mich hätte. Sein Dienst war lang und strapaziös, doch er liebte die Arbeit und das Bewusstsein, dass er seinen Beitrag leistete. Ich war sehr stolz auf ihn, auch wenn ich ihn während der Woche vermisste. Ich vermisste seinen warmen Körper neben mir im Bett und unsere fröhlichen Gespräche über die Zukunft. Wir malten uns immer die Kinder aus, die wir eines Tages haben würden, und all die Dinge, die wir mit ihnen unternehmen
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