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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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meine Mutter und küsste sie auf die Wange. “Wir haben sie gut erzogen”, versuchte er sie zu beschwichtigen. “Sie trägt einen vernünftigen Kopf auf ihren Schultern.”
    Meine Mutter wirkte verletzt. “Wie kannst du das sagen, wo sie dich gerade angelogen –”
    “Sie hat mich nicht angelogen”, korrigierte Daddy, der sich von ihr löste und in Richtung Flur ging. “Sie hat nur eine Kleinigkeit ausgelassen.”
    “Sie hat dich um ihren kleinen Finger gewickelt”, gab meine Mutter zurück.
    “Es wird ihr nichts passieren”, sagte Daddy. Er ging hinaus und wandte sich zur Haustür. Ich wusste, dass er heute Abend mit Grandpop in der Garage arbeitete, um das Angelzubehör einsatzbereit zu machen und den Deckchairs einen frischen blauen Anstrich zu verpassen.
    Meine Mutter machte sich mit Nachdruck wieder ans Putzen, und ich bemerkte ihren zusammengekniffenen Mund. Ich wusste, dass Isabel meine Eltern oft belog. Wenn wir samstagabends zur Beichte gingen, war ich immer erstaunt, wie kurz ihre Beichte war. Ich wusste, dass sie in dieser kurzen Zeit niemals alle Lügen aufzählen konnte. Ich lernte von ihr. Statt jede einzelne Sache zu erwähnen, die ich falsch gemacht hatte, präsentierte ich dem Pater jetzt eine verkürzte Version. “Ich habe fünfmal gelogen”, sagte ich beispielsweise. Ich lehnte es allerdings ab, vortäuschen als lügen zu zählen. Wenn ich das tat, würde ich die ganze Nacht im Beichtstuhl sitzen. “Einmal habe ich meiner Mutter nicht gehorcht”, fuhr ich dann fort, “und zweimal war ich gemein zu meiner kleinen Schwester.” Es war einfacher, auf diese Art zu beichten, statt meine Sünden in allen Einzelheiten zu schildern, und dem Pater schien es egal zu sein.
    Ich legte meiner Mutter den Arm um die Taille und fühlte mich sehr erwachsen. “Sie wird okay sein, Mom”, tröstete ich sie.
    Meine Mutter antwortete nicht. Ihre Augen waren feucht, als ob sie gleich weinen würde. Ihre Tränen verwirrten mich. Ich dachte, sie wollte vielleicht allein sein, und bot daher an, dass ich den Flurschrank auswischte. Ich nahm Lucy an die Hand und zog sie mit mir aus der Küche.
    Um neun Uhr kletterte ich an jenem Abend die knarrenden Stufen zum Dachboden hoch, Lucy folgte mir. Selbst ich klammerte mich ans Geländer. Die ausklappbare Treppe schien von Jahr zu Jahr wackliger zu werden, und wenn ich auch nur ein bisschen ängstlich veranlagt gewesen wäre, hätte ich mich vermutlich auch davor gefürchtet. In den letzten Jahren hatten Lucy und ich in dem Doppelbett geschlafen, das der Treppe am nächsten stand. Doch dieses Jahr wünschte ich mir mehr Privatsphäre. Ich wollte die Leselampe so lange anlassen, wie es mir gefiel, und in der Abgeschiedenheit meiner durch Vorhänge abgetrennten Kabine ohne Lucys unablässiges Geschnatter vor mich hin träumen. Aus diesem Grund hatten wir unsere Betten in verschiedenen Ecken des Raumes gewählt, während Isabel sich das Doppelbett hinter dem Schornstein ausgesucht hatte. Lucy war einverstanden gewesen mit der Neuaufteilung, doch jetzt, da sie auf dem aufgeheizten Dachboden unter ihr Laken kroch, schien sie nicht mehr so glücklich.
    “Lass den Vorhang offen, damit ich dich sehen kann”, bettelte sie. Sie lag auf der Seite, mit dem Gesicht zu meinem Bett, und hatte sich die Decke bis zu den Schultern hochgezogen.
    “Ich werde das Licht anlassen, damit ich lesen kann”, erklärte ich, während ich das Kissen aufschüttelte und die Decke aufschlug. “Das würde dich nur wach halten.” Ich wollte, dass sie so schnell wie möglich einschlief, damit ich hinuntergehen und mit meiner Mutter und Großmutter Canasta spielen konnte. Während der Schulzeit beschäftigte ich mich abends mit meinen Hausaufgaben und dem Fernseher – mit der
Andy Griffith Show
oder
Ed Sullivan
. Doch im Sommer hatten wir abends Zeit für Kartenspiele und Puzzles.
    “Bitte”
, jammerte sie.
    “Du kannst meinen Schatten sehen”, sagte ich und war froh, dass ich das Bett gewählt hatte, das dem Vorhang am nächsten war. “Sieh nur.” Ich ging zu dem kleinen Tischchen, das zwischen den beiden Betten in meiner Nische stand, und machte das Licht an. Dann zog ich den Vorhang zu. Er hing direkt neben meinem Bett, und als ich noch angezogen ins Bett geklettert war, wusste ich, wie ich für Lucy aussehen würde. Ich hatte jahrelang die Silhouetten meiner Schwester, meiner Cousinen, meiner Tanten und Onkel durch diese Vorhänge gesehen. “Siehst du”, sagte ich. “Du siehst

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