Der Tod meiner Schwester
Ich habe keinerlei Erinnerung daran … aber vielleicht habe ich sie in die Kiste gelegt und kann mich nur nicht daran erinnern.”
“Oder vielleicht hat Ned sie hineingelegt in der Hoffnung, dass du sie findest, die richtigen Schlüsse ziehst und ihn anzeigst”, sagte Lucy. “Vielleicht fühlte er sich schuldig, konnte sich aber nicht zu einem Geständnis überwinden.”
“Moment mal”, griff Ethan ein. “Er hatte ein
Alibi
. Er war mit unserem Vater im Garten.”
“Ethan.” Ich legte meine Hand auf seinen Arm. “Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass dein Vater ihn nur beschützen wollte? Dass er ihm ein falsches Alibi gegeben hat?”
Ethan schüttelte den Kopf. “Das würde er nicht tun”, behauptete er, doch ich dachte, dass er das nur sagte, weil er es glauben wollte.
In der folgenden Nacht konnte wohl keiner von uns schlafen. Ethan warf sich neben mir hin und her. Mich belastete weniger Isabels Nachricht noch die Erkenntnis, dass Ned höchstwahrscheinlich verantwortlich war für ihren Tod – das überraschte mich nicht. Was mich verfolgte, war der Blick auf Isabels Handschrift. Dass sie nach all diesen Jahren plötzlich wieder so lebendig wirkte, einfach nur, indem ich die gerundeten
as
und den Buchstabendreher in
Schwein
betrachtete. Der Buchstabendreher brachte mich fast zum Weinen. Er machte meine große Schwester menschlich und ließ sie so jung und unschuldig wirken.
Beim Frühstück am nächsten Morgen schlug Lucy vor, früh nach Hause zu fahren und unserer Mutter von Isabels Notiz zu erzählen, bevor wir sie zur Polizei brachten.
“Ich glaube nicht, dass wir ihr davon erzählen müssen”, argumentierte ich dagegen. “Du weißt, dass sie in letzter Zeit kaum sie selbst war, und dies würde sie nur noch mehr aufregen.” Mir war klar, dass ich mich zugleich selbst schützen wollte. Ich wollte mit meiner Mutter nicht ausführlicher über Isabels Tod sprechen, als es unbedingt nötig war.
“Ich weiß, dass sie sich aufregen wird”, gab Lucy zu. “Doch das ist unvermeidlich, und ich möchte sie in der Sache auf dem Laufenden halten. Je mehr sie von uns statt von der Polizei erfährt, desto besser.”
“Ich denke, dass Lucy recht hat”, mischte Ethan sich ein. “Und sobald die Polizei diese Nachricht zu Gesicht bekommt, werden sie noch einmal mit meinem Vater sprechen wollen. Allerdings kann ich nicht glauben, dass er hinsichtlich Neds Verbleibs in jener Nacht gelogen hat.”
“Vielleicht hat er nicht gelogen”, gab Lucy zu bedenken. “Vielleicht hat er sich nur in der Zeit geirrt. Gib ihm eine Chance, es zu erklären.”
Ethan sah hinaus zum Kanal, wo an diesem Samstagmorgen viele Boote unterwegs waren. “Verdammt”, sagte er mehr zu sich selbst. “Ich wünschte, Ned wäre hier, um uns zu erzählen, was wirklich passiert ist.”
“Ich auch”, stimmte ich ihm zu.
Ich setzte Lucy vor ihrem Haus in Plainfield ab, und wir kamen überein, dass wir uns am Nachmittag bei Mom treffen wollten, wenn sie von ihrer Schicht bei McDonald’s kam. Als ich in meine Straße in Westfield einbog, empfand ich eine Mischung aus Trauer und Befriedigung. Ich hatte also die ganze Zeit recht gehabt mit Ned. Ich wünschte mir so sehr, dass George Lewis noch leben würde. Ich wünschte mir, dass ich ihn umarmen und ihm sagen könnte, wie leid es mir tat, dass ich damals mit meinen zwölf Jahren nicht in der Lage war, Neds Schuld zu beweisen.
Ich fuhr langsamer, als ich mich meinem Haus näherte, und war überrascht, dass die ganze Einfahrt mit Autos verstopft war. Eines davon war Shannons Wagen. Die anderen kannte ich nicht. Mit einem Stich des Verrats und der Enttäuschung begriff ich, dass Shannon mein Wochenende an der Küste für eine Party genutzt hatte – eine Party, die offensichtlich bis zum frühen Morgen gedauert hatte. Vielleicht war sie sogar für das ganze Wochenende geplant.
Ich musste vor dem Grundstück meiner Nachbarn parken, da vor meinem kein Platz mehr frei war. Als ich ins Haus ging, empfing mich der überwältigende Gestank von abgestandenem Bier und möglicherweise von Marihuana, obwohl Letzteres vielleicht auch meiner Einbildung zuzuschreiben war. Im Wohnzimmer und im Flur schliefen überall Teenager. Ein Mädchen auf dem Sofa hob den Kopf, als ich hereinkam.
“Wo ist Shannon?”, fragte ich mit mühsam unterdrücktem Ärger. Ich spürte, wie mir die Zornesröte in den Hals und das Gesicht stieg.
“Shannon wer?”, fragte das Mädchen. “Ach, das Mädchen, das
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