Der Tod meiner Schwester
Männer, die vorübergingen, und hielt nach schlaksigen Akademiker-Typen Ausschau. Ich beobachtete, wie Menschen die kleinen Geschäfte auf der anderen Straßenseite betraten und wieder herauskamen. Ein junger Mann, der direkt gegenüberstand, rieb einer Frau den Rücken mit Sonnencreme ein. Ich beobachtete die beiden, bis ein paar Radfahrer vorbeifuhren und die Sicht blockierten.
Ich sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten zu spät. Vielleicht würde er gar nicht auftauchen. Er hatte sich über meinen Anruf nicht gerade gefreut.
“Es tut mir leid, dass Abby dich damit belästigt hat”, hatte er gesagt, als ich mich meldete. Seine Stimme war sanft und entsprach der Stimme, die ich mir vorgestellt hatte. Er klang weder verärgert noch wütend. Nur müde.
“Das musste sie tun.” Ich telefonierte von meinem Büro aus und starrte auf die Worte
Kapitel vier
auf meinem Bildschirm. Der Rest der Seite war noch immer leer. “Sie hat recht daran getan”, fuhr sie fort. “Und sie und ich stimmten darin überein, dass man die Sache untersuchen muss.”
Es blieb still. “Ich bin nicht sicher, dass
ich
damit übereinstimme”, gestand er schließlich.
“Wir sprechen hier von einem ernsthaften Justizirrtum”, erklärte ich. “Ein Mann saß im Gefängnis für etwas, das er nicht getan hat. Und wir sprechen über meine
Schwester
.” Als ich Isabel erwähnte, spürte ich nicht nur das alte Verlustgefühl, sondern erkannte auch, wie unsensibel ich war. “Es tut mir leid, Ethan”, entschuldigte ich mich rasch. “Ich habe dir noch nicht einmal mein Beileid ausgesprochen. Es tut mir sehr leid. Ich weiß, wie es ist, ein Geschwister zu verlieren.”
Ich hörte ihn seufzen. “Danke”, sagte er. “Ned … Ich weiß nicht, was mit ihm los war. So um die Zwanzig rum hatte er eine Art Zusammenbruch. Er wurde so … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Er existierte einfach nur noch. Lebte nicht mehr richtig.”
Hältst du das nicht für einen Hinweis darauf, dass er unter einer geheimen Schuld litt?, wollte ich fragen, tat es aber nicht. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt.
“Wie schlimm war es?”, fragte ich stattdessen. “Konnte er arbeiten?”
“Oh ja”, erwiderte Ethan. “So schlimm stand es nicht um ihn. Er war eine Zeit lang in Vietnam, was seinen Zustand nicht gerade verbesserte, und wurde schließlich wegen Schlafproblemen entlassen. Dann machte er eine Ausbildung als Buchhalter und arbeitete für eine Klempnerfirma, der er die Bücher führte. Er hat nie geheiratet. Er hatte ab und zu ein Date, doch nie etwas Ernstes.”
“Abby sagte … oder deutete zumindest an, dass er ein Alkoholproblem hatte.”
“Ja, das hatte er”, bestätigte Ethan. “Doch er war kein verlotterter Trinker. Der Alkohol hinderte ihn nicht am Arbeiten oder so etwas. Er hielt ihn nur betäubt. Wir versuchten, ihm Hilfe zu besorgen, doch er hätte niemals zugegeben, ein Problem zu haben. Man kann niemanden verändern, der sich nicht verändern will.”
Ich hatte noch viele weitere Fragen, wollte sie aber nicht am Telefon stellen. Ich hatte Angst, er würde auflegen, wenn ich zu tief herumstocherte.
“Können wir uns treffen?”, bat ich. “Ich würde gern mit dir persönlich darüber reden. Über den Brief.”
Die darauf folgende Stille war so tief und lang, dass ich fragen musste, ob er noch dran war.
“Ich bin hier”, sagte er mit dieser sanften Stimme. “Und ja, ich werde dich treffen. Wo wohnst du?”
“Westfield”, erwiderte ich. “Und du?”
“Am Kanal”, sagte er. Ich bezweifelte, dass er ahnte, wie mir diese zwei Worte den Atem stocken ließen. “Wir haben das Haus vor Jahren winterfest gemacht”, fügte er hinzu.
“Lebst du dort mit …” Ich war nicht sicher, wer mit ihm in dem alten Haus der Chapmans leben mochte. Seine Eltern? Seine Frau?
“Allein”, antwortete er. “Meine Frau und Abby wohnten auch hier, doch ich wurde vor fünf Jahren geschieden, und Abby hat jetzt natürlich eine eigene Wohnung. Sie hat eine Tochter. Meine Enkelin. Hat sie dir von ihr erzählt?” Stolz lag in seiner Stimme, und ich spürte, dass er lächelte.
“Nein”, sagte ich. “Aber das ist wundervoll.”
“Möchtest du hierherkommen?”
“Nein”, spie ich das Wort förmlich heraus. Auf gar keinen Fall würde ich nach Bay Head Shores fahren. “Vielleicht könnten wir uns auf halbem Wege treffen.”
“Nun”, sagte er. “Ich muss am Freitag nach Spring Lake. Wenn du willst, können wir uns dort zum
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