Der Tod meiner Schwester
Lunch treffen.”
Das war für mich mehr als der halbe Weg, doch das ging in Ordnung. Ich musste ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, um ihn zu überzeugen, dass der Brief der Polizei übergeben werden musste.
Ein Mann mit einer Aktentasche betrat das Restaurant, und ich schaute ihn erwartungsvoll an. Doch ich vermisste das rote Haar und die Brille, weshalb ich mich wieder dem Fenster zuwandte.
“Julie?” Ich drehte mich um und sah den Mann an meinem Tisch stehen.
“Ethan?”
, fragte ich zurück.
Er nickte mit einem gedämpften Lächeln und streckte mir die Hand entgegen. “Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich steckte im Ausflugsverkehr fest.”
“Ist schon in Ordnung.” Ich nahm seine Hand, und er setzte sich mir gegenüber.
“Ich hätte dich niemals wiedererkannt”, gestand ich und fragte mich dann, ob das unhöflich klang. Doch tatsächlich hatte ihn das Alter positiv verändert. Statt rot war sein Haar nun grau meliert, an den Schläfen dünnte es aus. Er trug keine Brille. Die sommersprossige Haut seiner Kindheit war nun einheitlich wettergegerbt, und er hatte Muskeln angesetzt. Er trug ein kobaltblaues kurzärmeliges Hemd, und seine Arme wirkten schlank und kraftvoll. Das Stubenhockerhafte seiner Kindheit war verschwunden. Völlig. “Du siehst großartig aus”, fügte ich hinzu.
“Und du siehst wundervoll aus”, sagte er. “Ich hätte dich überall wiedererkannt. Aber natürlich lagen überall im Haus deine Bücher mit deinem Foto auf dem Umschlag herum.”
“Lagen?”, hakte ich nach.
“Wir haben sie beide gelesen, doch meine Frau hat die Bücher in ihre Obhut genommen”, erklärte er. Er blickte auf meinen leeren Ringfinger. “Du bist verheiratet, oder?”, fragte er. “Ich erinnere mich an ‘Die Autorin lebt mit ihrem Mann in New Jersey’ oder so ähnlich auf einem der Buchumschläge.”
Die Kellnerin erschien, den Schreibblock bereit. “Wissen Sie schon, was Sie möchten?”
Ich blickte in ihr sonnenverbranntes Gesicht. “Er hatte noch keine Gelegenheit, einen Blick in die Speisekarte zu werfen”, sagte ich.
Ethan gab der Kellnerin die Karte, ohne sie geöffnet zu haben. “Einfach nur einen Burger, medium”, bestellte er. “Und Zitronenlimonade, bitte.”
Ich wählte den Shrimpssalat und wandte mich dann wieder Ethan zu. “Ich bin geschieden. Seit zwei Jahren.”
“Kinder?”
“Eine Tochter. Shannon. Sie ist siebzehn. Sie hat gerade die Highschool abgeschlossen.”
“Und schon College-Pläne?”
“Das Oberlin Musikkonservatorium”, erwiderte ich. “Sie spielt Cello.”
Er wirkte beeindruckt. “Wow.”
“Was machst du?”, fragte ich, hielt aber gleich die Hand hoch. “Warte. Lass mich raten … Du lehrst Meeresbiologie.”
Er lachte. “Ich bin Tischler”, entgegnete er.
“Oh.” Ich nickte. Das hatte ich nicht erwartet. Wenn irgendjemand mir gesagt hätte, dass der dürre kleine Ethan Chapman später mit seinen Händen statt mit seinem Kopf arbeiten würde, hätte ich es niemals geglaubt. Ich dachte an seinen ehrgeizigen Vater, Rosswell Chapman III. oder wie er geheißen hatte. In dem Sommer, als ich zwölf war, war er Vorsitzender Richter am Obersten Gerichtshof von New Jersey, und später kandidierte er erfolglos als Gouverneur. Ich fragte mich, ob es ihn enttäuscht hatte, dass seine Söhne Buchhalter und Tischler geworden waren, statt sich wie er mit Jura oder Politik zu beschäftigen.
“Ich war nicht im Mindesten überrascht, dass du Schriftstellerin geworden bist”, bemerkte Ethan.
“Nein?”
“Deine Familie war so künstlerisch veranlagt. Deine Mutter hat gemalt, nicht wahr?”
“Stimmt. Sie war Lehrerin, doch ihr Hobby war die Malerei.” Ich hatte fast vergessen, wie gern meine Mutter ihre Staffelei auf der Veranda des Bungalows aufgestellt hatte.
“Und dein Vater war Arzt, aber hat er nicht ebenfalls geschrieben?”
“Eine Kolumne für eine Zeitschrift”, bekräftigte ich.
“Du hast eine Tochter, die Cello spielt”, fuhr er fort. “Und deine kleine Schwester Lucy spielte immer auf dieser Plastikgeige.”
“Was?” Ich musste lachen. “Daran erinnere ich mich gar nicht, aber du hast vermutlich recht, denn sie spielt heute tatsächlich Geige. Sie ist in einer Band, den ZydaChicks.”
Er lächelte. “Siehst du.”
Ich nippte an meinem Tee und fragte mich, ob Isabel ein besonderes Talent entwickelt hätte, wenn sie die Chance gehabt hätte, erwachsen zu werden.
Ethan lächelte mich noch immer an, den Kopf zur
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