Der Tod meiner Schwester
Herzinfarkt tot zusammengebrochen. Dann standen da noch Julies und Lucys Bilder von der College-Abschlussfeier und daneben eines von Shannon. Ross nahm es in die Hand und sah mich lächelnd an.
“Eine Enkelin?”, fragte er.
Ich nickte. “Shannon”, erwiderte ich. “Von Julie.” Ich überlegte, ob ich ihm mehr erzählen sollte. Dass sie in Oberlin angenommen worden war, wie virtuos sie bereits spielte. Doch ich wollte das Gespräch mit Ross nicht länger als nötig dauern lassen.
“Sehr hübsch.” Dann deutete er auf Julies Bild. “Das ist Julie, nicht wahr? Sie war die Pfiffige. Diejenige mit Köpfchen und Mumm.”
Seine Worte berührten mich. Julie hatte Köpfchen, richtig, doch ihr Mumm war schon lange verflogen. Dennoch hatte er recht. Als er meine Mädchen gekannt hatte, war Julie diejenige mit dem meisten Elan gewesen.
“Ja”, pflichtete ich ihm jedoch bei, um das Gespräch kurz zu halten. “Sie hatte immer etwas vor.”
Ross humpelte hinüber zu dem Sessel und setzte sich. “Ich habe eine Enkelin und eine Urenkelin”, erzählte er. Er nahm das Glas, das ich ihm reichte, und sah zu mir hoch. “Aber deswegen bin ich nicht hier.”
Ich legte einen Untersetzer neben ihn auf den Tisch und setzte mich auf das Sitzkissen vor dem anderen Sessel. “Und warum bist du hier?”, fragte ich. Ich rieb meinen Nacken, der ein bisschen schmerzte. Meine Haut war feucht vor Schweiß, der weniger von der Hitze als von meiner Anspannung herrührte.
“Weißt du, dass mein Ethan und deine Julie sich heute zum Lunch treffen?”, fragte Ross.
“Was?”
Ich hatte gerade einen Schluck Wasser nehmen wollen und hätte beinahe das Glas fallen gelassen. “Warum um Gottes willen?” Soweit ich wusste, hatte Julie seit 1962 keinen Kontakt mehr mit Ethan Chapman.
Ross zuckte die Achseln. “Ethan sagte nur, dass er an sie gedacht und das Gefühl gehabt hätte, sie sehen zu wollen. Sie wollten sich in Spring Lake treffen.”
“Schön”, sagte ich knapp und erholte mich allmählich von dem Schock. “Schön für sie. Sie waren schließlich befreundet als Kinder.”
“Wie auch immer”, setzte Ross an. “Als Ethan mir sagte, dass er sich mit Julie treffen würde, musste ich an dich denken … an deine Familie. Daran, wie ich …” Er stellte sein Glas auf dem Untersetzer ab und blickte mir in die Augen. “Ich habe es alles falsch gemacht, Maria. In jeder Beziehung. Ich –”
“Schnee von gestern, Ross”, unterbrach ich ihn. “Ist gar nicht nötig, das alles wieder aufzuwärmen.”
“Aber ich glaube, dass es doch nötig ist”, entgegnete er.
Den gleichen ernsten Blick hatte er auch aufgesetzt, als er für den Gouverneursposten kandidierte. Ein Blick, der das Bedürfnis weckte, ihm zu vertrauen.
“Ich bin alt und müde”, gestand er. “Ich bezweifle, dass ich noch viel länger leben werde, und ich möchte mich bei all den Menschen entschuldigen, die ich im Lauf meines Lebens verletzt habe.”
“Was ist los?”, wollte ich wissen. Ich fragte mich, ob er vielleicht Krebs hatte, weil er so dünn war. “Bist du krank?”
Er schüttelte den Kopf und wischte meine Frage mit einer Handbewegung fort. “Letztes Jahr habe ich Joan verloren.” Er blickte von mir zu den Bildern auf dem Kaminsims. “Und Ned … Ned ist vor wenigen Wochen gestorben.”
“Oh”, sagte ich. Nun verstand ich, wie sich seine Welt verändert hatte. Ned musste fast sechzig gewesen sein, doch das Alter spielte keine Rolle, wenn man sein Kind beerdigen musste. “Es tut mir leid, Ross.”
“Zum ersten Mal verstand ich, wie du dich gefühlt haben musst, als Isabel starb.”
“Ja”, sagte ich nur.
“Deshalb wollte ich mit dir darüber sprechen … Ich wollte mich einfach entschuldigen.”
“Das hast du jetzt getan, und damit ist es gut und vorbei”, beruhigte ich ihn. Das Mitgefühl, das ich für diesen alten Mann empfand, war mir unangenehm. In erster Linie war er ein Politiker, der in der Lage war, jedem nach dem Mund zu reden.
Er sah mich so lange und eindringlich an, dass ich den Blick abwenden musste. Ich wusste, dass er mehr sagen wollte, doch was es auch sein mochte, ich wollte es nicht hören. Also erhob ich mich.
“Komm”, sagte ich und streckte ihm die Hand hin, um ihm aus dem Sessel zu helfen. Er hatte sein Wasser kaum angerührt, doch er war auch nicht wegen der Erfrischung gekommen.
Er umklammerte meine Hand, während er mühsam auf die Beine kam. Mit seiner Hand auf meinem Arm führte ich ihn über die
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