Der Tod meiner Schwester
würde, und tatsächlich sah ich, wie ein Mann meines Alters ausstieg.
Ich legte meine Gartenschaufel hin und richtete mich langsam auf. Das ist etwas, das ich gelernt habe – ich musste mir Zeit nehmen, um nach der Arbeit in der Sonne auf die Füße zu kommen. Ansonsten würde alles für ein paar Sekunden schwarz werden. Ich zog die Gartenhandschuhe aus und warf sie auf den Mulch, während ich beobachtete, wie der alte Mann einen Gehstock aus dem Wagen holte und auf mich zuhumpelte.
“Hallo”, rief ich und ging ihm ein paar Schritte über den Rasen entgegen.
Er winkte mir. “Hallo, Maria”, sagte er, und in meinem Kopf begann ein wildes Rasen, wie immer, wenn ein mir unbekannter Mensch mich zu kennen schien. Mein Erinnerungsvermögen war ganz und gar nicht schlecht, doch wenn ich Menschen außerhalb der gewohnten Umgebung traf, konnte ich sie oft nicht richtig zuordnen. Kannte ich diesen Mann von der Kirche? Oder vom McDonald’s? Mit der Hand beschattete ich meine Augen, um ihn klarer zu sehen. Er war groß und sehr hager und hatte schütteres weißes Haar. Er hinkte, als er auf mich zukam, und ich begriff, dass er auf den Gehstock angewiesen war und ihn nicht nur zur Zierde benutzte. Er wirkte wie ein völlig Fremder auf mich.
Er lächelte, als er näher kam, und obwohl etwas Vertrautes im Schwung seiner Lippen lag, konnte ich ihn dennoch nicht zuordnen.
“Du erkennst mich nicht wieder, oder?”, fragte er ohne Vorwurf.
Ich schüttelte den Kopf. “Es tut mir leid, doch so ist es”, erwiderte ich. “Gehören Sie zur Holy Trinity Church?”
Er streckte mir seine linke Hand entgegen, während er sich mit der rechten schwer auf den Gehstock stützte. “Ich bin Ross Chapman”, stellte er sich vor.
Ich war langsam genug aufgestanden, dessen war ich mir sicher, doch nun wurde mir so schwindlig, dass ich glaubte, ohnmächtig zu werden. Ich ergriff seine Hand, mehr um mir Halt zu geben, als um sie zu schütteln, und meine Stimme schien mir nicht mehr zu gehorchen.
“Es ist lange, lange her”, meinte er.
Es gelang mir zu nicken. “Ja”, bestätigte ich.
“Du bist noch immer eine umwerfende Frau”, sagte er, obwohl ich meinen Garten-Overall trug und mein Gesicht vermutlich schmutzverschmiert war.
“Danke.” Ich konnte das Kompliment nicht erwidern. Ross Chapman war einst ein sehr attraktiver Mann gewesen, doch in den einundvierzig Jahren, seit ich ihn zuletzt persönlich gesehen hatte, war er verdorrt und verschrumpelt. Nachdem wir das Sommerhaus 1962 zum letzten Mal verließen, hatte ich sein Bild gelegentlich in den Zeitungen oder im Fernsehen gesehen. Schließlich war er ein prominenter Mann in New Jersey und hatte sogar als Gouverneur kandidiert. Doch heute erinnerte nichts mehr an ihm an jenen vitalen Politiker.
“Verbringst du damit deine Zeit?” Er deutete auf das Blumenbeet. “Mit Gartenarbeit?”
“Ich arbeite außerdem bei McDonald’s in Garwood und ehrenamtlich im Krankenhaus”, antwortete ich.
“McDonald’s?”, wiederholte er lachend. “Das ist großartig. Du wusstest dich immer zu beschäftigen.” Er nickte auf eine Art, die wohl als Anerkennung gemeint war.
Ich wusste nicht genau, was ich mit ihm anfangen sollte. Ein unangenehmes Schweigen entstand. Ich wollte ihn eigentlich nicht hereinbitten, doch ich sah keine Alternative.
“Möchtest du hereinkommen und etwas trinken?”, bot ich schließlich an.
“Gerne”, erwiderte er.
Ich ging die vordere Treppe hinauf und hielt ihm die Haustür auf. Die vier Stufen bereiteten ihm offenbar Probleme. Ich blickte zur Seite und tat, als ob ich seine Gebrechlichkeit nicht bemerkte, weil ich ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte.
“Setz dich doch hierhin.” Ich deutete auf einen Sessel im Wohnzimmer und rasselte dann die Dinge herunter, die ich ihm zu trinken anbieten konnte.
“Nur Eiswasser”, sagte er.
In der Küche ließ ich mir Zeit, die Gläser vorzubereiten. Ich wünschte mir, er wäre nicht gekommen. Ich wusste nicht, wozu sein Besuch gut sein sollte. Ich hätte den Rest meines Lebens sehr glücklich weiter leben können, ohne meinen alten Nachbarn wiederzusehen.
Als ich zurück ins Wohnzimmer ging, hatte er sich nicht hingesetzt. Stattdessen betrachtete er die Bilder auf dem Kaminsims. Auf einem waren wir alle vier – Charles und ich und Julie und Lucy. Die Mädchen waren damals vierzehn und zehn Jahre alt. Es war das letzte Bild von Charles; nur wenige Wochen danach war er in unserer Küche mit einem
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