Der Tod meiner Schwester
öffentliche Auftritte hatte ich eine lange Antwort parat, für Situationen wie diese eine kurze. “Als Kind liebte ich Nancy Drew. Und ich schrieb gerne. Beides schien wunderbar zusammenzupassen.”
“Ach so”, meinte er leichthin, während Detective Engelmann sich weiter Notizen machte. “Wissen Sie, ich erinnere mich an einen Artikel über Sie … Ich weiß nicht, vermutlich in irgendeiner Zeitschrift oder Zeitung. Dort sagten Sie, dass Sie als Kind Ihren Spielkameraden erfundene Gruselgeschichten erzählten und vorgaben, sie seien in der Nachbarschaft geschehen.”
Waren wir noch beim Small Talk, oder hatte sich ein etwas anderer Ton in seine Stimme geschlichen? “Das stimmt”, bestätigte ich.
“Und dann geschah tatsächlich etwas Mysteriöses … und das in Ihrer eigenen Familie”, fuhr er fort.
Er musste mir meine Verwirrung angesehen haben.
“Der Mord an Ihrer Schwester”, wurde er konkret.
“Oh”, reagierte ich. “Ja.” Ich verlagerte mein Gewicht auf dem harten Stuhl. Ich wollte auf den Punkt kommen. Wollte ihm und der bislang schweigenden Detective Engelmann erklären, dass ich immer Ned für schuldig gehalten hatte und dass er dies meiner Meinung nach mit seinem Brief auch bestätigte. Aber dies hier war nicht meine Veranstaltung, weshalb ich auf die nächste Frage wartete.
“Was können Sie uns über George Lewis sagen?”, fragte er.
Der Gedanke an George ließ mich bedauernd lächeln. “Er war ein Spaßvogel. Ich verbrachte damals ziemlich viel Zeit mit ihm und seiner Schwester Wanda. Ich glaube nicht, dass er seinen Vater kannte, und ich weiß nicht genau, was mit seiner Mutter los war. Er und Wanda wurden von ihrer Cousine Salena großgezogen. Ich nehme an, dass seine Familie sehr arm war, doch sie standen einander nah und mochten sich sehr.” Ich erinnerte mich an den Blick, den George meinem Vater zugeworfen hatte, als der gekommen war, um mich abzuholen. “Nach außen hin wirkte er abgebrüht und war vermutlich ganz gerissen”, fügte ich hinzu. “Doch das sind nur Vermutungen. Diese Seite an ihm habe ich nie erlebt. Es macht mich so wütend … und so traurig, dass er für etwas ins Gefängnis ging, das er nicht getan hat.”
Der Lieutenant nickte. “Ich glaube, dass die Person, die für den Mord an Ihrer Schwester verantwortlich ist, viel Schuld auf sich geladen hat, weil ein Unschuldiger dafür ins Gefängnis musste.”
Mir entging nicht die Gegenwartsform in seinem Satz. “Nun”, warf ich ein, “meiner Überzeugung nach handelte es sich bei dieser Person um Ned Chapman, und ich glaube, dass ihn letztlich diese Schuld umgebracht hat.” Ich hoffte, dass wir nun zum Wesentlichen kommen konnten, doch Lieutenant Jaffe faltete die Hände und beugte sich vor.
“Sie verstehen, dass wir jeder Spur in diesem Fall nachgehen müssen. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen. Wir haben Ihre Aussage von 1962, doch für uns ist es von entscheidender Bedeutung, völlig unbefangen an diesen Fall heranzugehen.”
Ich nickte, auch wenn ich nervös wurde. Ich wollte das hier hinter mich bringen, wollte meine Aussagen von damals noch einmal durchgehen, um diese ständigen Erinnerungen loszuwerden. Doch das würde nicht geschehen, jedenfalls noch nicht.
“Erzählen Sie uns von Isabel”, bat Lieutenant Jaffe.
Die Frage war so allgemein gehalten, dass ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte.
“Sie war schön”, begann ich. Ich wünschte mir, dass mein Stuhl zumindest Armlehnen hätte. Meine Hände lagen schwer und nutzlos im Schoß. “Und sie war rebellisch. Ein typischer Teenager. Sie schlich sich jede Nacht hinaus, um Ned auf der Plattform in der Bucht zu treffen.” Ich schwieg und überlegte, was ich noch über Isabel sagen sollte. Bis auf das leise Surren des Aufnahmegeräts und das Kritzeln des Bleistifts auf dem Block, in dem sich Detective Engelmann Notizen machte, war es völlig still im Raum. Als sie fertig war, sah sie hoch und meldete sich zum ersten Mal zu Wort.
“Woher wussten Sie, dass sie sich jede Nacht hinausschlich?”, fragte sie. Sie hatte verblüffend grüne Augen in der Farbe von frischem Gras, und ich fragte mich, ob sie spezielle Kontaktlinsen trug.
“Ich wusste es, weil ich sie dabei beobachtete”, erwiderte ich. “Weil ich mich selbst hinausschlich.” Sicherlich wussten sie das bereits aus den alten Protokollen zum Fall. Aber, wie der Lieutenant gesagt hatte, sie fingen noch einmal von vorne an.
“Wie war Ihre Beziehung
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