Der Tod meiner Schwester
“Ich habe mir den Fall niemals aus der Perspektive der Behörden angesehen. Ich wirke schuldig. Ich hatte ein Motiv. Ich wusste, wo sie sein würde. Ich war ebenfalls da.” Ich schüttelte den Kopf. “Ich verstehe, dass sie mich genau unter die Lupe nehmen müssen. Es hat mich nur völlig überrumpelt. Ich wurde wütend und sagte, dass ich nichts mit dem Mord zu tun hätte, doch natürlich …” Die Worte blieben mir im Halse stecken.
“Natürlich was?”, hakte Ethan nach.
“Natürlich
hatte
ich etwas damit zu tun.”
“Julie.” Er nahm meine Hand und drückte sie fest. “Du warst erst zwölf. Ein Kind.”
Viele Menschen hatten mir das schon gesagt. Freunde. Therapeuten. Doch Ethan war dabei gewesen. Er hatte mich gekannt. Er hatte das Mädchen gekannt, das ich gewesen war. Aus seinem Mund bedeuteten mir die Worte mehr.
“An das alles zu denken, brachte einige Erinnerungen zurück … auch liebevolle Momente mit Isabel”, sagte ich. “Wir sind in jenem Sommer nicht gut miteinander ausgekommen, doch tief in mir drin weiß ich, dass wir uns gern hatten. Ich weiß, dass ich sie liebte.”
“Natürlich tatest du das”, bekräftigte Ethan. “Ned hielt mich damals für einen Trottel und behandelte mich entsprechend. Dennoch weiß ich, dass er mich liebte. Und ich weiß auch, dass er Isabel liebte. Deswegen ergibt es keinen Sinn, dass er sie getötet haben soll.”
Ich beobachtete ein Segelboot, das majestätisch Richtung Brücke zog. An Bord befanden sich ein Mädchen in Schwimmweste und ihre Eltern. Es sah so aus, als wollte ihr Vater ihr gerade das Tanzen beibringen.
“Weißt du, was ich zur Polizei gesagt habe?”, begann ich, als meine Gedanken wieder zu Ethans Bemerkung über Ned zurückkehrten. “Ich sagte ihnen, dass man einen anderen Menschen niemals wirklich kennt. Du weißt nicht, was in Ned wirklich vorging, Ethan. Niemand weiß das.” Glen hatte diese pessimistische Theorie in mir entstehen lassen. “Ich beispielsweise dachte, ich würde meinen Exmann so gut kennen wie mich selbst”, erzählte ich. “Ich war sicher, dass er mich sehr lieben würde. Ich hielt ihn für ehrlich und aufrichtig. Doch während ich das alles glaubte, hatte er eine Affäre.”
“Oh.” Ethan streichelte mit seinem Daumen meinen Handrücken. “Ich weiß, wie das ist. Bei Karen war es auch so. Meiner Exfrau.”
“Tatsächlich?” Ich fragte mich, wie ähnlich unsere Erfahrungen sein mochten. “Dauerte ihre Affäre lange?”
“Ungefähr ein Jahr.”
“Bei Glen auch. Zumindest denke ich, dass es nur ein Jahr war, doch wie ich schon sagte, ich kannte ihn nicht wirklich. Wie hast du es herausgefunden?”
“Sie hat es mir gesagt. Sie spielte in einem Stück des Gemeindetheaters mit und kam eines Abends nach Hause und erklärte mir, dass sie den Regisseur des Stücks lieben würde und die Scheidung wolle.”
“Oh”, meinte ich betroffen. Ich stellte mir die Szene vor. In welchem Raum hatten sie sich aufgehalten, als sie es ihm sagte? Hatte er in jener Nacht im Gästezimmer geschlafen? Oder sie? Glen hatte damals auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen, weil das Gästezimmer vollgestopft war mit meinen Bücherkisten. “Warst du am Boden zerstört?”, fragte ich.
“Und wie”, bekräftigte er. “Ich hatte mir niemals eine Scheidung vorstellen können. Das Wort existierte gar nicht in meinem Vokabular. Meine Eltern waren fast sechzig Jahre verheiratet und hervorragende Vorbilder für eine gute Ehe. Sie konnten wunderbar miteinander kommunizieren und liebten sich. Ich dachte, dass meine Ehe genauso liefe, doch ich irrte mich.”
“Genau das meine ich”, warf ich ein. “Man hat eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie jemand ist. Du gehst davon aus, dass, wenn die Ehe für dich gut läuft, dasselbe auch für den anderen gilt. Und du ahnst nicht das Geringste, bis du eines Tages erfährst, dass dein Partner eine Affäre hat.”
“Hat dein Mann dir seine Affäre nicht gestanden?”
Ich schüttelte den Kopf. “Nein, und rate mal, wie es aufgeflogen ist?”
“Wie?”
“Die Frau rief mich an. Sie wüsste, dass Glen mit sich kämpfte, wie er es mir beibringen solle. Deswegen hätte sie sich entschlossen, es mir selbst zu sagen.”
Ethan lachte. “Na, da weiß man ja, wer in
der
Beziehung die Hosen anhat.”
“Ich hielt das Ganze erst für einen grausamen Scherz”, sagte ich. “Vielleicht war einer von Glens Kollegen wütend auf ihn und wollte ihm eins auswischen. Doch als Glen an jenem
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