Der Tod meiner Schwester
zusammengerollte Spielzeugraupe in die Büchse gequetscht, die dann wie ein Springteufel funktioniert hatte. Ich hörte Gelächter und drehte mich um. Ned Chapman stand in seinem Garten, die Hände in die Hüften gestemmt und mit amüsierter Miene.
“Hast du das hier reingelegt?”, schrie ich und marschierte auf ihn zu.
Er hob beide Hände. “Sieh mich nicht so an”, sagte er und versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.
Ich wusste, dass er es gewesen war und dass Isabel ihm von der Büchse erzählt haben musste. Woher sonst sollte er es wissen?
“Fass ja nie wieder meine Sachen an!”, warnte ich, wobei meine Wut zur Hälfte gespielt war. Insgeheim fühlte ich mich geschmeichelt durch seine Aufmerksamkeit. Ich wollte ihn schon fragen, ob er mit Pam Durant eine Bootsfahrt unternommen hatte, doch dann fiel mir ein, dass das gar nicht möglich war. Er hatte ja Strandwache am Baby-Strand gehabt. George hatte die ganze Sache vermutlich nur erfunden, um mich aufzuziehen.
Draußen war es noch immer hell, sodass ich mich mit einem Buch auf die Spundwand setzte. Ich saß dort vielleicht eine Viertelstunde, als Isabel hinaus in den Garten kam. Sie spazierte hinter den Zaun und setzte sich nicht weit von mir ebenfalls auf die Spundwand. Sie trug das Giraffenhandtuch um die Hüfte geknotet und blickte mich ausdruckslos an.
“Was ist?”, fragte ich.
“Ich weiß, was du tust”, deutete sie geheimnisvoll an.
“Was meinst du?” Ich tat so viele Dinge, dich ich nicht tun sollte, dass ich nicht wusste, wovon sie sprach.
“Ich weiß, dass du manchmal nachts mit dem Boot hinausfährst.”
Ich versuchte verwirrt und ungläubig auszusehen. “Wovon sprichst du?”, fragte ich scheinheilig.
Sie beugte sich vor, um sich am Schienbein zu kratzen. “Zufällig bin ich in jener Nacht hinausgegangen und habe bemerkt, dass das Boot weg war”, erklärte sie. “Ich wusste, dass Grandpop es nicht genommen haben konnte, weil ich ihn vom Garten aus schnarchen hörte. Ich ging hinauf und sah, dass dein Bett leer war.”
Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit wieder auf mein Buch, als könnte ich tatsächlich lesen nach dem, was sie gesagt hatte. “Ach so?”, machte ich nur.
“Wo bist du mitten in der Nacht hingefahren?”
“Das geht dich nichts an.” Diesen Satz hatte sie so oft zu mir gesagt, dass es mir eine Genugtuung war, ihn auch einmal ihr an den Kopf zu werfen.
“Sieh mal, Julie”, meinte sie beschwichtigend. “Du bist erst zwölf. Ich mache mir Sorgen, dass du in große Schwierigkeiten gerätst.”
“Ich kann selber auf mich aufpassen”, maulte ich.
“Entweder du erzählst mir, was du da gemacht hast”, befahl Isabel in ihrem herrischsten Ton, “oder ich werde Mom erzählen müssen, was du so treibst.”
Ich sah sie scharf an. “Geh nur und erzähl es ihr”, zischte ich. “Und dann erzähl ihr auch gleich, wo
du
mitten in der Nacht hingehst.”
Sie zuckte nicht zusammen, doch ich bemerkte, dass sie blass geworden war.
“Woher solltest du wissen, wo ich hingehe?” Nun klang sie schon weniger aufbrausend.
“Ich habe meine Quellen”, bemerkte ich altklug. “Behalt einfach das, was du über mich weißt, für dich, und ich behalte das, was ich über dich weiß, für mich.” Zum ersten Mal im Leben war ich ihr gegenüber im Vorteil. Ein besonderes Gefühl der Macht durchströmte mich. Ich erkannte, dass sie um eine Antwort rang, und das befriedigte mich. “Übrigens”, fügte ich hinzu, “war Ned heute am Strand?”
Verblüfft schaute sie mich an. “Was spielt das für eine Rolle?”
“War er’s oder nicht?”
“Nein”, sagte sie. “Er hatte Besorgungen zu erledigen.”
Mein Herz zog sich leicht zusammen. Ich dachte, es würde mich freuen, wenn Ned sie betrog, doch ich verspürte keine Schadenfreude. Ich wollte sie gerade fragen, ob Pam am Vormittag mit am Strand gewesen war, da ergriff sie zuerst das Wort.
“Ich bin so verliebt in ihn, Jules”, gestand sie. Sie blickte aufs Wasser, und ein Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht. “Ich weiß, dass es schwer für dich ist, das zu verstehen, doch eines Tages wirst du das. Es ist wunderbar, sich so zu fühlen. Jemanden zu lieben und zu wissen, dass man ebenfalls geliebt wird.”
Was sollte ich sagen? Dass ich ebenfalls in Ned verliebt war? Dass ich sehr wohl verstand, wie sich zumindest diese Seite anfühlte?
Plötzlich rückte sie näher und legte den Arm um mich. Ich machte mich ganz steif, doch es fühlte sich so weich und
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