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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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konnte besser sein? Dennoch gab es einen kleinen Teil in mir, der sich fragte, wie sich unsere Hände auf
meinem
statt auf seinem Oberschenkel anfühlen würden. Ich mochte diesen neuen und gereiften Ethan sehr.
    “Es tut mir leid, dass ich so abweisend zu dir war, als wir zwölf waren”, entschuldigte ich mich.
    Er lachte. “Muss es nicht”, erwiderte er. “Ich lebte in meiner eigenen kleinen Welt. Ich war ein Spinner und noch dazu ein frustrierter, weil ich in jenem Sommer eine große Schwäche für dich hatte.”
    “Machst du Witze?”
    “Ich fand dich so cool, ein Wildfang mit dem speziellen weiblichen Charme einer Zwölfjährigen.”
    Ich musste ebenfalls lachen.
    “Aber ich wusste nicht, wie ich dich noch ansprechen sollte”, gestand er. “Du warst reifer geworden und unerreichbar. Ich wollte mit dir Krabben fangen und angeln gehen, wie wir es immer getan hatten. Wollte dich fragen, ob wir zusammen mit eurem Boot hinausfahren, doch ich wusste, dass du mich nicht mehr um dich haben wolltest.”
    “Es tut mir leid”, wiederholte ich. “Wenn ich gewusst hätte, wie toll du dich entwickelst, hätte ich dich mitgenommen, glaub mir.” Die Worte kamen mir leicht über die Lippen, und ich bereute sie nicht.
    “Danke”, freute er sich. “Es ist schön, das zu hören.”
    Wir schwiegen einen Augenblick, und unwillkürlich stellte ich mir seine Hand auf meinem Oberschenkel vor. Mein Bauch zog sich bei dem Gedanken zusammen.
    “Du hattest so viel Entdeckungsgeist”, erinnerte sich Ethan. “Du warst so eine Abenteurerin.”
    “Dieses Mädchen gibt es nicht mehr”, sagte ich mit einer gewissen Wehmut. “Sie starb, als Isabel starb.”
    “Ich wette, sie ist noch irgendwo in dir versteckt.”
    “Ich weiß nicht”, entgegnete ich.
    “Das Leben ist so schön, Julie”, machte er mir Mut. “Und es ist so kurz. Wir müssen aus jeder Minute, die uns gegeben ist, das Beste machen.”
    “Nimmst du Antidepressiva oder was?”
    Er lachte wieder. “Ich bin nur glücklich. Vermutlich habe ich schon bei der Geburt eine Überdosis Serotonin abbekommen. Vielleicht habe ich Neds Anteil erhalten.” Der Gedanke stimmte ihn nachdenklich, und ich ließ ihn schweigen, bis er wieder das Wort ergriff. “Ich glaube, dass meine Eltern mich geprägt haben. Sie waren sehr positive, zupackende Menschen. Ich erinnere mich oft an eine Rede meines Vaters, nachdem er die Wahl zum Gouverneur verloren hatte. Wir waren alle bei ihm. Das war in Trenton. Ich war fünfzehn und stand mit meiner Mutter und Ned hinter ihm. Ich versuchte nicht zu weinen, weil ich nicht wie ein Trottel wirken wollte, doch mein Vater tat mir wirklich leid. Er hatte so schwer für diese Kampagne gearbeitet, und auf mich machte es den Eindruck, als ob nichts anderes mehr zählte. Dad hielt die übliche Rede mit Dankesworten für seine Helfer und die Leute, die für ihn gestimmt hatten. Ein Reporter rief: ‘Was werden Sie jetzt tun?’, und mein Vater wartete eine Minute, bis er antwortete, er glaube nicht an den alten Spruch, dass, wenn sich eine Tür schließe, sich zugleich irgendwo ein Fenster öffne. Er glaubte, dass, wenn sich eine Tür schließe, sich die ganze Welt öffne, und dass er andere Wege finden werde, dem Volk zu dienen. Und das tat er. Er eröffnete wieder seine Kanzlei und arbeitete unentgeltlich. Wir waren vermögend, sodass das niemals ein Thema war. Er arbeitete unauffällig und unermüdlich, bis er in Pension ging. Wie auch immer, seine Worte an jenem Tag sind mir im Gedächtnis geblieben. Er hat sich von seiner Niederlage nicht unterkriegen lassen.”
    “Er war ein weiser Mann”, bekräftigte ich. Und ich dachte:
Ein solcher Mann würde damit umgehen können, wenn er von der Schuld seines Sohnes erfuhr. Er würde sich von einer solchen Enthüllung erholen können.
    Ethan musste Ähnliches gedacht haben.
    “Weißt du was, Julie?”, fragte er.
    “Was?”
    “Wir müssen unseren Eltern von Neds Brief erzählen, bevor die Polizei es tut.”
    “Ich weiß”, antwortete ich resigniert.
    Ethan ließ meine Hand los und legte den Arm um mich. “Und vielleicht kann ein ‘Ich liebe dich’ den Schock mildern, wenn du es deiner Mutter sagst.”

22. KAPITEL
    M aria
    Ich unterhielt mich an diesem Morgen bei McDonald’s mit einer Frau, die ich von der Kirche kannte, als meine junge Kollegin Cordelia zu mir kam.
    “Maria.” In ihrem netten kolumbianischen Akzent sang sie meinen Namen geradezu, sodass er irgendwie neckisch klang. “Du

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