Der Tod meiner Schwester
noch einmal durchleben zu müssen und an einem Ort zu sein, der sie an deine Tante Isabel erinnert. Und es sieht so aus, als müsste die Polizei auch deine Großmutter befragen, sodass deine Mutter ihr von dem Brief erzählen muss, und davor hat sie Angst. Davor, wie Nana reagieren wird. Sie hat im Moment also ziemlich viel am Hals.”
Shannon musterte mich und schüttelte langsam den Kopf. “Ich wünschte, ich hätte einen Zauberstab, um das alles verschwinden zu lassen”, sagte sie. “Mom sollte vielleicht eine Therapie machen oder so etwas.”
“Sie war als Kind in Therapie”, antwortete ich. “Und es geht ihr gut. Du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen. Du solltest nur einfach wissen, dass die nächsten Wochen für sie und deine Großmutter sehr schwer sein können.”
“Und für dich”, ergänzte Shannon.
“Ach, weißt du”, meinte ich und zuckte die Achseln. “Ich erinnere mich an so wenig aus jener Zeit, dass es mich nicht allzu sehr berührt. Ich kann mich nicht mal mehr richtig an Isabel erinnern.”
Shannon zog die Füße an und blickte mir in die Augen. “Okay. Ich sage das jetzt wirklich nicht aus Eigennutz, aber scheint es nicht ein sehr schlechter Zeitpunkt zu sein, ausgerechnet jetzt Mom von meiner Schwangerschaft zu erzählen?”
Ich nickte. “Ja, das stimmt. Aber ich glaube, je früher du es ihr sagst, desto besser.” Ich nahm ihre Hand. “Komm schon, Liebes. Lass sie es nicht erst herausfinden, wenn du Umstandskleider trägst, okay?”
Sie seufzte. Sie musste einsehen, dass ich recht hatte.
“Shannon.” Ich verstärkte meinen Griff. “Ich habe das noch nie zuvor zu dir gesagt, Liebes, aber wenn du es nicht deiner Mutter erzählst, werde ich es tun müssen.”
Ungläubig blickte sie mich an. “In Ordnung, ich werde es ihr sagen”, gab sie schließlich nach. “Aber nicht heute Abend.”
“Du hast eine Woche”, setzte ich ihr ein Ultimatum.
“Okay.”
Wir wandten uns wieder dem Fernseher zu, und Shannon zappte sich durch, bis sie einen Sender mit alten Schwarz-Weiß-Filmen fand. Ich wusste nicht, was wir da sahen, doch es spielte auch keine Rolle. Meine Nichte rückte auf dem Sofa an mich heran und ließ den Kopf an meine Schulter sinken. Ich legte den Arm um sie und floss fast über vor Liebe.
“Möchtest du meine Geburtsbegleiterin sein?”, fragte sie.
Ich war berührt, doch ich kannte meine Antwort. “Nein”, antwortete ich. “Ich habe nicht das Zeug zur Geburtshelferin. Du weißt, wen du fragen solltest.”
Sie seufzte. “Ich habe Angst, Lucy”, gestand sie.
Ich hielt sie fester und küsste sie auf den Kopf. “Vor der Geburt oder davor, es deiner Mutter zu sagen?”
“Vor dem Rest meines Lebens.”
24. KAPITEL
J ulie
1962
Vor langer Zeit war ich einmal eine Heldin.
An einem erstickend heißen Tag in der letzten Juliwoche lagen Lucy und ich bäuchlings lesend am Baby-Strand, während unsere Mutter in der Bucht schwimmen war und Isabel mit ihren Freunden neben der Strandwache rumhing. Plötzlich richtete Lucy sich zum Sitzen auf.
“Irgendwas stimmt nicht”, sagte sie. Lucy hatte eine besondere Wahrnehmung dafür, wenn etwas Außergewöhnliches geschah.
“Das bildest du dir ein”, entgegnete ich, stellte aber rasch fest, dass sie recht hatte. Es gab eine leichte Veränderung im Strandleben. Ich hörte noch immer die Musik aus den Transistorradios, doch das Gelächter und die Gespräche hatten sich in Flüstern und vereinzeltes Rufen verwandelt. Irgendetwas ging eindeutig vor sich.
Ich setzte mich ebenfalls auf und bemerkte ein paar Frauen am Wasserrand, die suchend über die Bucht blickten. In einer von ihnen erkannte ich meine Mutter. Irgendwo hinter mir hörte ich eine weibliche Stimme rufen: “Donnie! Donnie!” Ich schaute zur Strandwache, wo Ned auf seinem Podest stand und durch das Fernglas zum tiefen Wasser schaute.
Meine Mutter kam auf uns zu.
“Was ist los, Mom?” Ich sprang auf.
“Ach, nicht viel”, gab sie vor, “doch ich glaube, wir sollten jetzt nach Hause gehen. Es ist so heiß heute.”
Ich durchschaute sie sofort. Irgendwas Schlimmes war geschehen, und sie wollte Lucy davor bewahren. Ich hatte nicht die Absicht, zum Bungalow gehen, sondern rannte stattdessen zur Strandwache.
“Julie!”, rief Mom mir hinterher. “Wo willst du hin? Wir müssen nach Hause.”
“In einer Minute”, schrie ich über die Schulter zurück.
Ned stand noch immer oben, hatte sich aber hinabgebeugt, um mit einer Frau zu
Weitere Kostenlose Bücher