Der Tod meiner Schwester
sprechen. Es sah nach einem privaten Gespräch aus, weshalb ich hinter den Stand ging, wo die Teenager alle beisammen standen. Ich zupfte Isabel am Arm.
“Was ist los?”, wollte ich von ihr wissen.
“Ein kleiner Junge ist verschwunden”, sagte sie.
“Was meinst du mit verschwunden?”, hakte ich nach. “Im Wasser?”
“Wenn ich wüsste, wo er ist, wäre er nicht verschwunden”, gab Isabel zurück, woraufhin einige ihrer Freundinnen lachten.
“Ein dreijähriger Junge verschwand von der Stranddecke seiner Eltern”, erklärte mir Mitzi Caruso. “Er hat hellblondes Haar und trägt kurze blaue Hosen.”
Ich blickte mich um. Fast alle waren jetzt aufgestanden, sprachen miteinander und hielten ihre Kinder fest. Frauen schlugen sich die Hand vor den Mund und starrten mit gerunzelter Stirn aufs Wasser. Von meinem Platz aus suchte ich den Strand nach einem flachsköpfigen Jungen ab und erspähte auch einige, doch sie alle schienen mindestens einen Elternteil bei sich zu haben. Ich verspürte Traurigkeit und betete, dass der kleine Junge nicht ertrunken war. Ich musste etwas tun, um mein Gefühl der Hilflosigkeit zu lindern.
“Ich werde den Spielplatz überprüfen”, sagte ich, auch wenn mir die Teenager nicht viel Aufmerksamkeit schenkten. Ich rannte hinüber zu den Schaukeln. Die Aufforderung meiner Mutter, zu ihr und Lucy zurückzukehren, war vergessen.
Ich begann meine Suche sehr methodisch, indem ich mit den Füßen Striche zog und so einzelne Areale im Sand abteilte. Als Erstes fand ich eine Männeruhr. Sie lag neben einer der Schaukeln im Sand und hatte sich vermutlich vom Handgelenk eines Vaters gelöst, der sein Kind angeschoben hatte. Danach fand ich eine Spielkarte – eine Kreuzzwei – und diverse Lutscherstiele. Und dann fand ich etwas, das mir einen Schauder über den Rücken jagte: ein kleines Stückchen blauer Stoff!
Ich rannte zurück zur Strandwache, wo Ned gerade die Leiter hinunterkletterte.
“Ned!”, rief ich, als ich näher kam. “Sieh mal, was ich bei den Schaukeln gefunden habe.” Ich hielt ihm das Stück Stoff hin, und er nahm es, ohne offenbar zu wissen, was er damit machen sollte. Sein Gesicht wirkte ernst, und sein Mund war nur eine schmale Linie.
“Es könnte von der Hose des Jungen stammen”, vermutete ich.
“Oh”, erwiderte er. “Nein. Seine Hosen sind kariert, nicht einfarbig.” Er wirkte abgelenkt, als er mir das Stück Stoff wiedergab. “Aber danke für den Versuch und dass du die Augen offen gehalten hast.” Er lief los in Richtung Parkplatz, und Isabel kam mit gerunzelter Stirn auf mich zu.
“Nerv ihn nicht, Jules”, warnte sie. Sie raffte ihr Haar im Nacken zusammen und band es mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz. “Das hier ist ein Notfall. Da ist keine Zeit, Quatsch zu machen.”
“Ich weiß, dass das ein Notfall ist”, gab ich zurück und wandte mich verärgert ab.
“Komm schon, Julie”, rief meine Mutter. Sie packte gerade die Sachen zusammen, und ich ging hinüber, um ihr zu helfen.
“Ich möchte bleiben, Mom”, bat ich, als sie die Decke zusammenlegte.
“Du wirst nur im Weg stehen.”
“Werde ich nicht”, entgegnete ich. “Ich verspreche es.”
Meine Mutter klemmte die gefaltete Decke unter den Arm und blickte sich um. Die Leute standen noch immer in kleinen Gruppen beisammen und sprachen aufgeregt miteinander. Einige Erwachsene flitzten hin und her. Vermutlich suchten sie nach dem Jungen, dachte ich, auch wenn der Strand so klein war, dass man von unserem Standort aus praktisch alles überblicken konnte. Nicht einsehbar waren nur die Stellen mit hohem Strandgras zu beiden Seiten des Strandes, doch ich sah bereits zwei Frauen dort verschwinden, die immer wieder riefen: “Donnnnnieeee! Donnnnnnieeeee!”
In der Ferne hörte ich Sirenen und blickte zur Straße. Ned und Isabel und noch ein paar andere standen am Parkplatz, und Ned winkte den Krankenwagen und die Polizei heran, die kurz darauf in Sicht kamen.
“Bitte
, Mommy.” Lucy griff nach dem Arm unserer Mutter. “Ich möchte nach
Hause
.”
Lucy hasste das Geräusch von Sirenen. Sie erinnerten sie vermutlich an ihre Fahrt im Krankenwagen nach dem Unfall, den sie und meine Mutter vor langer Zeit gehabt hatten.
“In Ordnung”, sagte Mom. “Nimm die Thermosflaschen und wir gehen. Julie, du darfst bleiben, aber lass die Polizei in Ruhe ihre Arbeit machen.”
“Okay.”
“Und sei um drei zu Hause. Keine Minute später, klar?”
Zwei Männer gingen an uns vorbei,
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