Der Tod soll auf euch kommen
gar nicht.
Capa trat auf eine hohe Eichentür zu, klopfte rücksichtsvoll an und öffnete sie, ohne auf Antwort zu warten.
»Tritt ein, Bruder Eadulf«, forderte er ihn mit leiser und sanfter Stimme auf, als würde er ihm sein Beileid bekunden.
Bruder Eadulf schritt über die Schwelle. Leise wurde die Tür hinter ihm geschlossen.
Colgú, König von Muman, noch jung und mit glänzendem rotem Haar, stand breitbeinig und mit auf dem Rücken verschränktenHänden vor einem großen Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Sein Gesicht war ernst. Als Bruder Eadulf den Raum betrat, ging der König mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Er wirkte sehr besorgt, und seine grünen Augen, die sonst fröhlich funkelten, schienen farblos und leer.
»Tritt ein, Eadulf«, sagte er und griff nach der Hand des Sachsen. »Tritt ein, setz dich. Nicht so förmlich. Wie geht es meiner Schwester?«
Bruder Eadulfs Gesten wirkten etwas hilflos, als er mit eingesunkenen Schultern Platz nahm.
»Gott sei Dank, zum erstenmal seit Tagen schläft sie richtig«, sagte er. »Um ehrlich zu sein, ich mache mir große Sorgen um ihre Gesundheit. Seit wir aus Rath Raithlen zurück sind und deinen Boten mit der unheilvollen Nachricht vor dem Kloster von Finan dem Aussätzigen antrafen, hat sie kein Auge mehr zugetan.«
Colgú seufzte tief und ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken.
»Ich bin ebenfalls sehr besorgt. Meine Schwester läßt ihre Gefühle nie nach außen dringen, weil sie glaubt, es schicke sich nicht, andere an ihren inneren Regungen teilhaben zu lassen. Das ist unnatürlich.«
»Mach dir keine Gedanken«, erklärte Eadulf. »Unter uns gesagt, sie hat sich in den letzten beiden Nächten geradezu die Augen ausgeweint. Aber erwähne das ihr gegenüber bloß nicht, denn wie du schon sagtest, sie möchte gern vor anderen so wirken, als würde sie nie die Beherrschung verlieren.«
»Sogar vor ihrem eigenen Bruder?« Colgú verzog das Gesicht. »Nun, zumindest dir gegenüber hat sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen.« Er schwieg einen Augenblick, dannsagte er trübsinnig: »Ich glaube, ich bin für das große Leid verantwortlich, das unsere Familie getroffen hat.«
Eadulf zog fragend eine Augenbraue hoch. »Welcher Art sollte deine Schuld denn sein?«
»Habe ich nicht Fidelma dazu überredet, nach Rath Raithlen zu reiten und ihren Sohn der Obhut der Amme Sárait anzuvertrauen? Sárait wurde ermordet und Alchú, mein Neffe, wurde entführt.«
Bruder Eadulf schüttelte den Kopf. »Du hast das Unheil nicht voraussehen können, weshalb solltest du schuldig sein? Du wußtest doch ebensowenig wie wir, was in unserer Abwesenheit geschehen würde. Woher solltest du ahnen, daß unser Sohn«, ganz unmerklich betonte er Fidelmas Bruder gegenüber demonstrativ das Wörtchen ›unser‹, »entführt werden würde?«
Doch er konnte Colgú damit nicht beruhigen. Der ging nicht einmal näher auf Eadulfs Bemerkung ein.
»Fidelma schläft jetzt also?«
Bruder Eadulf nickte. »Mit Hilfe eines kleinen Beruhigungsmittels, das ich zubereitet habe – einem Aufguß aus wilden Stiefmütterchen, Helmkraut und Maiglöckchen.«
»Ich verstehe nichts von Apothekerkünsten, Eadulf.«
Eadulf lächelte. »Die wenigen Heilkenntnisse, über die ich verfüge, habe ich an der medizinischen Hochschule von Tuam Brecain gelernt, im Königreich von Breifne.«
Colgú lächelte müde. »Ach ja. Ich vergaß ganz, daß du an unserer größten medizinischen Hochschule studiert hast. Meine Schwester schläft also? In welcher Gemütsverfassung befindet sie sich?«
»Wie nicht anders zu erwarten ist sie zutiefst erschüttert und steht Todesängste aus. Am Anfang hat sie kaum begriffen,was geschehen ist, aber in den letzten beiden Tagen hat sie in der Gegend, wo Sárait ermordet und Alchú entführt worden ist, Nachforschungen angestellt. Sie hat mit verschiedenen Leuten gesprochen, doch dabei ist nichts herausgekommen. Es ist, als sei das Kind mitsamt dem Täter wie vom Erdboden verschluckt.«
»Was für ein finsteres Verbrechen«, sagte Colgú leise.
Er erhob sich und kehrte zum Kamin zurück. Wieder stand er breitbeinig und mit auf dem Rücken verschränkten Händen da, so wie er Eadulf empfangen hatte.
Nach einer Weile sagte er: »Eadulf, ich habe dich rufen lassen, weil ich in dieser Angelegenheit den Kronrat, meine engsten Berater, zu mir gebeten habe. Ich halte es für klüger, die Sache ohne meine Schwester zu erörtern.« Er zögerte. »Meine Schwester ist
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