Der Tod soll auf euch kommen
geworden, in die Berge geflohen, die von da an nach ihr benannt wurden –Sliabh Mis. Dort trieb sie seitdem ihr Unwesen, tötete rachdurstig alle Tiere und Menschen, die ihr über den Weg liefen, und trank deren Blut.
Es gehörte eine große Portion Mut dazu, diesen bedrohlichen Bergen die Stirn zu bieten, doch Nessán war verzweifelt, und Verzweiflung verleiht selbst dem Zaghaftesten ungeahnte Kräfte.
Also war er zu dem schwarzen Wasserfall aufgestiegen und hatte – wie seine Vorfahren jahrhundertelang vor dem Einzug des neuen Glaubens – einen Hasen gefangen, um ihn der Göttin Dub Essa, der dunklen Herrin des Wasserfalls, zu opfern und sie um die Erfüllung eines Wunsches zu bitten. Aber sie sandte ihm kein einziges Zeichen als Antwort. Er wartete eine Weile und versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. Doch wollte er die Nacht nicht in der unwirtlichen Bergregion verbringen. Ringsum war alles still, und er sah den Nebel vom Meer heraufziehen. Zunächst war er unschlüssig gewesen, hatte dann aber den Wasserfall hinter sich gelassen und war bergab gelaufen. Als der Nebel plötzlich ins Tal herabsank, befand er sich schon an den unteren Hängen.
Entschlossen lief er weiter. Er hörte das vom Nebel eigenartig gedämpfte Rauschen des Baches neben sich. Er vermochte nur noch knapp drei Meter weit zu sehen und mußte sich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren.
Jetzt näherte er sich dem Weg am Fuße der Berge, der nach links vom Bach fort und schließlich um die Berge herum zu seinem Heim führte. Er war erleichtert, die dunklen, verschleierten Berggipfel hinter sich gelassen zu haben.
Da vernahm er plötzlich vor sich den hohen schrillen Ton einer kleinen Glocke. Er war durchdringend, auch wenn der Dunst ihn ein wenig dämpfte. Erschrocken blieb er stehen.
Neben einem dunklen Baumstamm gewahrte er einen Schatten, dessen Umrisse er in den Nebelschwaden kaum erkennen konnte.
Wieder erklang die Glocke.
»Mögen die Götter dich heute beschützen, Schäfer Nessán«, sagte eine hohe Stimme in eigenartigem Singsang. Man konnte sie kaum menschlich nennen, so sehr schien sie durch die feuchte schwere Luft entstellt.
Nessán kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Ihn fröstelte genauso wie vorhin, als ihn der Nebel eingeholt hatte.
»Wer spricht da?« erwiderte er mürrisch und versuchte, seine Nervosität zu verbergen.
»Ich«, erscholl die Stimme. Ein glucksendes Kichern folgte. Wieder ertönte die schrille Glocke.
»Salach! Salach!«
rief der Schatten ihm unwillkürlich zu, als er sich näherte.
Nessán wich erschrocken einen Schritt zurück. »Bist du ein Aussätziger?«
Er konnte den am Baumstamm kauernden Mann auch beim Nähertreten nicht genau ausmachen, denn er trug einen Umhang mit Kapuze. Weder das Gesicht noch andere Körperteile waren entblößt, außer der weißen – beinah schneeweißen – klauenartigen Hand, in der sich eine kleine Glocke befand.
»So ist es«, war die Antwort. »Ich glaube, du kennst mich, Nessán von Gabhlán.«
Nessán zögerte. Als ihm dämmerte, wer der Leprakranke war, bekam er auf einmal Angst. Wer hatte nicht schon in den angrenzenden Tälern von dem Herrn der Bergpässe gehört, dessen Name in einem Atemzug mit Greuel und Schrecken genannt wurde?
»Ich kenne dich, Herr«, flüsterte er, »doch woher weißt du meinen Namen?«
Diesmal erklang ein Lachen durch den Nebel.
»Ich weiß viele Dinge, denn gehören das Land und die Menschen hier nicht mir? Wieso sollte ich nicht wissen, Nessán, Schäfer von Gabhlán, warum du auf dem Gipfel der Drei Senken warst? Wieso sollte ich nicht wissen, warum du die dunkle Herrin des Wasserfalls angefleht hast, obwohl es diejenigen, die den neuen Glaubens predigen, verbieten?«
Nessán holte tief Luft. »Woher weißt du das alles?« Er wollte fordernd klingen und dem Mann mutig entgegentreten, doch er wirkte eher eingeschüchtert.
»Das geht dich nichts an, Nessán.«
»Was willst du von mir, Herr? Ich habe dir nichts getan.«
Daraufhin lachte sein Gegenüber erneut auf.
Nessán straffte sich innerlich. »Wieso sollte ich glauben, daß du all die Dinge wirklich weißt, wie du behauptest?« Plötzlich faßte er mehr Mut. »Du meinst, du wüßtest, warum ich dort oben war? Vermutungen kann ja jeder anstellen, der einen von da absteigen sieht.«
Wieder läutete die Handglocke, als wollte sie ihn zum Schweigen bringen.
»Ich habe hier am Weg auf deine Rückkehr gewartet.« In der Stimme schwang nun etwas Bedrohliches
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