Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
erledigen.“
„Oder tausend.“
„Eben. Nimm nur die Medizin“, sagt er und zeigt auf mich. „Warum sollte man dort forschen? Es stirbt ja keiner. Man könnte also sagen, dass der Tod für Fortschritt sorgt. Ich bin der Fortschritt!“ Seine Brust schwillt etwas an, als er das ausspricht.
„Du machst mir das gerade richtig schmackhaft, vielleicht sollte ich doch deinen Job übernehmen“, sage ich ihm. „Vielleicht würde ich dann etwas Sinnvolles in meinem Leben tun. Äh, meinem Tod, meine ich.“
„Du hast vielen Menschen das Leben gerettet. Anja glücklich gemacht. Tobias das Leben geschenkt. Ich würde argumentieren, dass das durchaus sinnvoll gewesen ist.“
„Aber im Endeffekt für nichts.“
„Meine Güte, nun sei doch nicht so depressiv.“
„Du erinnerst dich schon noch, dass ich gleich sterben werde, oder?“, erwidere ich.
Tod rollt mit den Augen und lehnt sich ans Brückengeländer. „Du hast Leuten eine Zukunft gegeben und sie glücklich gemacht. Kein schlechter Schnitt für ein Leben. Ist aber lediglich meine Meinung.“
„Und jetzt könnte ich dir noch helfen, zur Ruhe zu kommen, wenn du mich deinen Job machen lässt.“
„Nein, ich halte das für keine gute Idee“, entgegnet er.
Ich bin überrascht. „Aber das wolltest du doch all die Jahre über“, sage ich.
„Schon, aber du hast mir über die Jahre auch einiges beigebracht. Darüber, wann man einen freien Willen haben soll und wann nicht zum Beispiel. Oder über Freundschaft. Und jetzt will ich dir gerade ein guter Freund sein.“
„Aber ich könnte dich davon erlösen“, sage ich.
„Ja. Aber ich kann das aushalten. Du nicht, glaube ich.“
In der Ferne höre ich eine Polizeisirene.
„Du hast mir vieles zum Nachdenken gegeben“, sagt Tod. „Und als Freund bleibt mir nicht viel, was ich für dich tun kann.“
Die Polizeisirene wird lauter.
„Du musst sterben“, sagt er mir knallhart ins Gesicht.
Ich sehe, wie ein Wagen, der von zwei Polizeifahrzeugen verfolgt wird, sich durch die Autos schlängelt. Eine Frau beachtet das ganze Treiben nicht. Sie will gerade über die Straße gehen, als das verfolgte Auto hinter einem Bus hervorschießt. Dem Lenker des Fluchtfahrzeugs bleibt nichts anderes übrig, als ihr auszuweichen, verliert dabei aber die Kontrolle über seinen Wagen und kommt von der Fahrbahn ab.
Wie ein Reh im Licht der Scheinwerfer stehe ich auf dem Gehweg der Brücke und sehe, wie das Auto auf mich zurast. Links und rechts von mir springen die Leute aus dem Weg. Tod steht immer noch am Geländer und nickt mir zu.
„Ob-La-Di, Ob-La-Da“, sagt er als Letztes zu mir, bevor mich der Wagen an den Beinen erfasst und nach vorn schleudert. Mit der Brust krache ich an das Geländer und falle schließlich vornüber hinunter in die Spree.
Als ich in das Wasser eintauche, versucht meine malträtierte Lunge die Luft zu ersetzen, die aus ihr herausgepresst wurde, aber sie zieht nur Wasser. Mein Überlebensinstinkt versucht mich dazu zu bringen, an die Oberfläche zu schwimmen. Ich bewege Arme und Beine, aber der Schmerz in den Beinen ist zu stark, und ich spüre, wie die letzten Sauerstoffreserven aufgebraucht werden und meinem Körper entweichen.
Während ich unter Wasser nach der nicht vorhandenen Luft japse, geht mir durch den Kopf, wie ironisch es ist, dass ich vermutlich der einzige Mensch auf Erden bin, der in der Lage ist, über das Wasser zu laufen. Aber diese Eigenschaft nützt mir jetzt nichts.
Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht kraft meiner Gedanken gesprungen bin, als ich das Auto auf mich zurasen sah. Dann denke ich daran, dass ich mich ja jetzt einfach irgendwohin teleportieren könnte. Aber es funktioniert nicht. Vermutlich starren mich auch Leute von der Brücke aus an. Und ich kann mich einfach nicht konzentrieren.
Und während die Zuckungen meiner Lunge immer kürzer und schwächer werden, schießen mir Bilder von meinen Eltern, meiner Oma, Gerrit, Cornelia, Michael, Frank, Simone, Anja und meinem kleinen Sohn durch den Kopf. Die letzte Umarmung von Tobias. Der letzte Kuss von Anja.
Ich spüre keine Schmerzen in meinen Beinen oder in meiner Brust mehr. Es ist ruhig. Nur mein langsamer werdender Herzschlag pocht in meinen Ohren. Im trüben Wasser vor mir taucht plötzlich Tod auf, dessen Umhang doppelt so groß wie normal erscheint, während er schwerelos um ihn schwebt. Sein Kescher leuchtet, und sein fahles Gesicht hebt sich von dem dunklen Hintergrund ab, als er seine Hand erhebt
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