Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens
du mich mit diesen Unterstellungen. Dir bleibt ebenso wenig dein Schicksal erspart wie mir.“
Ich schaute von unten zu ihm herauf, und mein Gesicht machte vielleicht einen zu abgeklärten Eindruck, denn Tods innerer Kochtopf schien kurz vor der Explosion zu sein.
„Ernsthaft? Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, sprichst du immer noch von Schicksal? Du hast doch dein Schicksal gewählt. Du hast es selbst gesagt.“ Ich war total ruhig, Tod hingegen war außer sich.
„Was redest du da für einen Unsinn?“, spuckte er mir praktisch entgegen.
„Du hast vorhin erzählt, dass der Tod dir gesagt hat, dass du seine Aufgabe übernehmen musst oder deine Familie nie wiedersiehst. Stimmt das so ungefähr?“
„Ja, und?“, fragte Tod.
„Nun, das ist doch eine Wahl. Aufgabe übernehmen oder deine Familie nicht wiedersehen. Entweder oder. Ich habe also ebenfalls eine Wahl, und diese habe ich bereits vor einiger Zeit getroffen. Du bist nur derjenige, der das nicht akzeptieren will, weil du Angst davor hast, weiter in Einsamkeit diesen Job zu machen.“
„Du verstehst überhaupt nichts!“, brüllte Tod.
„Ich verstehe zumindest, dass meine zukünftige Frau im Moment daheim ist und auf mich wartet. Und genau dorthin werde ich jetzt auch zurückgehen.“
Ich stand auf und war gerade dabei, mich geistig auf den Sprung einzustellen, als Tod mich wütend ansah und mit kalter Stimme sagte: „Du hast noch genau sieben Jahre zu leben.“
Ich hörte die Worte, als ich gerade verschwand und gleichzeitig im Treppenhaus vor unserer Wohnung wieder auftauchte. Mein Gehirn brauchte einen Augenblick, um die Information zu verarbeiten. Instinktiv sprang ich sofort zurück, aber Tod war bereits verschwunden und hatte das Feuer sich selbst überlassen.
Kapitel 44
Anja interpretierte mein Zittern als die Reaktion meines Körpers auf die Nachricht, dass mein Vater aller Wahrscheinlichkeit nach bald sterben würde. Selbstverständlich war das ein Faktor für mein Befinden, die Hauptsache musste ich ihr allerdings verschweigen. Eine Weile versuchte sie mich zu trösten, aber an diesem Abend kam ich nicht mehr zur Ruhe.
Als es an der Zeit war, ins Bett zu gehen, ging ich ins Bad und beschloss noch einmal, meine eigene Vision zu sehen. In meinem Schlafanzug stand ich vor dem Badezimmerspiegel und konzentrierte mich.
Wie schon zuvor sträubte sich die Vision, mir etwas zu zeigen, aber erneut sah ich verschwommen den Lustgarten, die Spree, einen Bus und eine Zeitung. Die Zeitung lag zerfleddert auf dem Boden und raschelte im Wind, aber plötzlich war ganz kurz die obere Ecke mit dem Datum in nie gesehener Schärfe zu erkennen. 5. Mai 2009.
Ich flog aus der Vision und schwankte so sehr, dass ich beinahe in die Badewanne gestürzt wäre. Es gelang mir, mich zu fangen, und setzte mich auf den Wannenrand, während ich mir das Blut von den Lippen leckte. Offenbar hatte ich mich so konzentriert, dass ich meine Unterlippe aufgebissen hatte. In dieser Nacht fand ich kaum Schlaf.
Am nächsten Morgen musste ich früh ins Krankenhaus, und ich kam zu spät, weil ich in der Bahn einschlief und zwei Stationen zu weit fuhr. Überhaupt stand ich an diesem Tag ziemlich neben mir. Ich wollte mit Tod sprechen und versuchte jemanden zu finden, der bald sterben würde. Zum ersten Mal in meinem Leben hoffte ich, dass sich einer der Patienten mit dem Sterben beeilen würde. Aber alles Hoffen nützte mir da nichts.
Nach meiner Schicht ging ich einen großen Umweg durchs Haus und lief schließlich Bibi über den Weg, die in der Nähe des Kreißsaals ihre Pirouetten drehte.
„Hallo, Bibi“, sagte ich, und sie stoppte in ihrer Bewegung.
„Hallo, Martin. Wusstest du schon, dass ich Topfpflanzen mag, aber keine Blumen?“
„Nein, das wusste ich ehrlich gesagt nicht.“
Sie schlug ein Rad quer über den Flur. „Das habe ich schon auf sechs Kontinenten gemacht“, erklärte sie stolz.
„Hast du Tod irgendwo gesehen?“, fragte ich sie.
„Ach, der …“ Urplötzlich wirkte sie nicht mehr so fröhlich. „Weiß nicht. Ich sehe ihn nicht so oft. Und ich glaube, das ist auch ganz gut so.“
„Schade, aber trotzdem vielen Dank.“
Ich drehte mich um und ging. Bibi rief mir hinterher: „Wir sehen uns bald!“
Als ich daheim war, rief ich meine Mutter an, um zu erfahren, wie es meinem Vater ging. Man hatte ihm mittlerweile einen Zugang gelegt, damit man mit der Chemotherapie beginnen konnte. Am liebsten hätte ich diese ganze Sache
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