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Der Tod und der Dicke

Der Tod und der Dicke

Titel: Der Tod und der Dicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Drangsalierung durch die Gruppe gezogen hatte, von einer Institution zur nächsten mitzunehmen. Selbst seine einzige Fertigkeit, die einem Talent nahekam, nämlich das Anfertigen von wiedererkennbaren Porträt-Bleistiftskizzen, hielt er vor der Umwelt geheim. Ein Kinderpsychologe hätte dies mit einer relativ milden Form von Autismus in Verbindung bringen können, doch blieb er selten irgendwo lange genug, um auf den Laptop-Bildschirmen der Psychologen mehr als nur ein kurzes Flackern zu hinterlassen. Da er die Aufforderungen seiner Mitschüler, Karikaturen oder Pornografisches zu fabrizieren, ebenso zurückwies wie die Bemühungen der Lehrer, ihn zum Zeichnen von Motiven ihrer Wahl zu animieren, lernte er bald, dieses kleine Talent vor aller Augen zu verbergen. Es blieb daher versteckt und unerforscht, war etwas Persönliches und Privates und Trost nur ihm allein.
    Vielleicht war diese Befähigung, bedeutende Details auf Papier einzufangen, Teil seines ebenso verborgenen Talents zum Überleben. Wie sein Bleistift war auch das ein stumpfes Instrument und bestand aus nicht viel mehr als der Fähigkeit, aus den Worten der anderen auszuwählen, was nützlich für ihn sein konnte, und den Rest zu ignorieren. Seine Berufswahl ergab sich aus der verdutzten Schnoddrigkeit eines Beratungslehrers, der meinte: »Ich weiß wirklich nicht, was ich dir empfehlen soll, Hector. Ein Leben als Kleinganove vielleicht, aber dafür bist du nicht qualifiziert genug. Vielleicht solltest du es mit der Polizei versuchen!«
    Das tat er. Und seine Bewerbung, die zu einer Zeit kam, als die Rekrutierungszahlen niedrig standen, wurde angenommen, obwohl seine schulischen Qualifikationen dürftiger als dürftig, seine verbalen Kompetenzen ein Witz waren und seine Selbstdarstellung zwischen dem Lächerlichen und dem Erbarmungswürdigen schwankte.
    Als sicherer Versager eingestuft, sobald die Ausbilder ihn zu Gesicht bekamen, war es doch genau diese Gewissheit, die ihn vor dem Versagen bewahrte. Überzeugt, die Härte des Kurses werde von selbst zu seinem Ausscheiden führen, unternahmen sie keinerlei konkrete Schritte, um ihn loszuwerden. Das zeigte, dass sie Hectors Wesen nicht verstanden hatten. Weise ihm die Tür, und er würde gehen. Aber da ihm die Tür nicht gewiesen wurde, fasste er es als positives Zeichen auf, und noch nicht einmal die Tatsache, dass er die meisten seiner Kurse mit dem nächsten Rekrutierungsschub wiederholen musste, ließ ihn davon absehen, Polizist zu werden – schließlich der erste Entschluss, zu dem er sich offen bekannt hatte. Letztlich, als Vorwegnahme seiner folgenden Karriere, wurde er – wie die beharrliche Maus, die sowohl Falle als auch Gift überlebte – von der Nervensäge der Polizeischule zu so etwas wie ihrem Maskottchen. Keiner der Ausbilder wollte als derjenige gelten, der Hector den Gnadenstoß versetzte.
    Und so, zu jedermanns Überraschung außer zu seiner eigenen, bestand er schließlich die Ausbildung und trat seinen Weg als Mid-Yorkshire-Legende an.
    An diesem Morgen lag Hector wie immer nach dem Aufwachen exakt fünf Minuten lang im Bett. Dann stand er auf. Er brauchte so wenig einen Wecker wie ein Vogel. Diese Woche hatte er Frühschicht, und es war eben die Zeit, zu der er aufstehen musste. Jede Andeutung, es könnte vielleicht die Möglichkeit bestehen, dass er früher oder später aufwachte, hätte ihn zweifelsohne verblüfft.
    Eine halbe Stunde später, gewaschen, satt und gekleidet, öffnete er die Tür des Reihenhauses, in dem er eine Einzimmerwohnung mit Kitchenette und Badezimmer auf dem Flur gemietet hatte, und trat auf den Bürgersteig der schmalen Vorstadtstraße, der ein ironisch veranlagter Stadtbeamter den Namen Shady Grove zugeteilt hatte. Trotz des Fehlens jeglicher Bäume zwitscherten die Vögel, noch ungestört vom Verkehrslärm, und am Ende der langen Häuserzeile huschte der Schwanz eines verstädterten Fuchses um die Ecke, der nun nach einer recht erfolgreichen Nacht, in der er die Abfälle einer chinesischen Frittenbude einen Kilometer weiter durchforstet hatte, nach Hause zurückkehrte.
    Die Luft versprach einen weiteren glorreichen Sommertag, und Hector, nicht unsensibel für die Impulse der Natur, schlenderte federnden Monsieur-Hulot-Schritts den Bürgersteig entlang.
    Irgendwann hörte er hinter sich einen Wagen. Er war zwar noch ein gutes Stück entfernt und fuhr mit langsamer Geschwindigkeit, aber zu dieser Stunde war das ungewöhnlich genug, um Hectors

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