Der Tod und die Diebin (Bündnis der Sieben) (German Edition)
dunkel. Wieso war es so dreckig? U nrat klebte zwischen den hochragenden Pflastersteinen.
Lucy ging der Frau hinterher. Kein anderer war in der Nähe. Die Frau blieb stehen, rückte ihren Hut zurecht und lachte schrill. Aus einem Hauseingang trat ein Mann. Seine flache Mütze hing ihm schief auf dem Kopf.
„Schicker Hut, Polly.“
Schwerfällig drehte sich die Frau nach ihm um und kicherte albern. „Gefällt er dir? Der ist brandneu.“
„Im Gegensatz zu dir.“ Auf sein gehässiges Lachen zeigte sie ihm die Feigenhand. Der Mann lachte noch lauter. „Na dann, viel Erfolg heute Nacht.“ Er schob seine Mütze in den Nacken und ging davon.
Die Frau ordnete ihre Kleider. Schob ihre Brüste unter dem Mieder zurecht und zwickte sich in die Wangen. „Heute Nacht bist du schön, Mary Anne Nichols. Die paar Jahre zu viel sieht dir keiner der Halunken an.“
Plötzlich rührte sich etwas in der Dunkelheit hinter ihr. Schatten krochen über die Häuserwände, wanden sich die Gasse entlang auf Lucy und die Frau zu. Wie flüssiges Pech tropften sie aus Mauerritzen, aus Fensternischen und Türspalten. Die Finsternis brachte Kälte mit. Lucys Atem gefror. Sie bibberte, schlang die Arme um sich , doch es half nichts. Die Kälte suchte sich einen Weg durch ihre Kleidung bis in ihr Herz. Lucy traute sich nicht mehr, zu atmen. Die Schatten verdichteten sich, wölbten sich zu Gestalten, die näher und näher kamen.
*
Lucy wimmerte. Daniel ließ sie los. Er hatte ihr nichts getan , doch sie verzog das Gesicht und stöhnte angstvoll. Plötzlich fuhr sie hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Zimmerecke.
„Lucy?“
Sie nahm ihn nicht wahr. Er fasste sie an den Schultern und schüttelte sie. „Lucy. Wach auf.“
Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei.
„Lucy, sieh mich an!“
Sie reagierte nicht, starrte weiter in die Ecke. Er setz t e sich zu ihr, zog sie in seinen Arm. Es war gleichgültig, wenn sie wach wurde und ihn für einen Einbrecher hielt. Nur diese Angst durfte sie nicht mehr erdulden müssen. Lucy keuchte, schlug die Arme vor die Augen und zitterte am ganzen Körper. Ihre Hände waren eiskalt. Ihre Wangen, ihre Arme, wie in Eiswasser getaucht. „Lucy!“ Er rüttelte sie fester. Sie hörte nicht auf, zu zittern. Im Zimmer war es warm. Sie hatte unter einer Decke gelegen. Warum war sie eiskalt? Er rieb über ihren Rücken, hauchte in ihre Hände. Lucys Finger waren dünn und blau vor Kälte. Ihr Blick wurde leer, ihr Atem ging flach und das Wimmern wurde leiser. Es klang verzweifelt, hoffnungslos. Ihr Körper verlor jegliche Farbe, wurde immer kälter.
„Lucy!“ Warum nahm sie seine Wärme nicht an? Er hob sie hoch, eilte ins Bad. Vorsichtig legte er sie in die Wanne und ließ warmes Wasser über sie fließen.
Ein Schau d er ging durch sie hindurch. Für einen Moment klammerte sie sich an den Rand und schnappte nach Luft. Ganz langsam entspannte sie sich. Daniel drehte das Wasser heißer. Endlich sah sie ihn an , aber auf eine Weise, als würde sie durch ihn hindurchsehen.
„Sie kommen zu mir.“
„Wer?“
„Die Schatten.“
*
Lucy schrie. Die Frau hörte sie nicht.
„Dreh dich um!“
Sie blieb nicht mal stehen. Der Schattenmann wuchs in ihrem Rücken zu etwas Mächtigem, Bedrohlichem . Die schwarzen Schlieren wehten wie Haare um seinen Kopf, als er die Arme nach der Frau ausstreckte. Sie erstarrte, schaute über ihre Schulter. Als sie sah, was sie verfolgte, wurden ihre Augen weit vor Schreck. Sie taumelte zurück, stolperte. Kein Schrei kam über ihre Lippen, als sie wahnsinnig vor Angst an einem Tor zerrte. Es ging nicht auf. Die Frau trat dagegen. Lucy hörte ihr Keuchen . Das Schattenwesen verschluckte das matte Licht der Laternen, den roten Schein am Himmel, das fahle Glimmen der wenigen Sterne. Die Kälte erreichte Lucys Herz. Fraß sich hinein, umschlang es, bis sie nicht mehr atmen konnte. Sie wollte rennen. Sie konnte sich noch nicht einmal bewegen.
Die Finsternis stülpte sich über die Frau. Sie würde sie töten. Grausam, bestialisch. Sie konnte nichts tun. Musste zusehen. Konnte nicht fliehen, nicht helfen. Pechschwarze Rinnsale sickerten von der Leiche weg. Sie lag reglos da. Wunden klafften, der starre Blick war nach oben gerichtet.
Wohin wollten die Schatten? Sie waberten auf sie zu. Lucy drängte sich fester an die Hauswand. Sie hatte kein Gefühl mehr im Körper. Er war wie aus Eis. Die schwarzen Wogen türmten sich auf. Sie würde
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