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Der Tod Verhandelt Nicht

Der Tod Verhandelt Nicht

Titel: Der Tod Verhandelt Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
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ihr Handy keinen Empfang haben. Sie müsste morgen Vormittag hier eintreffen. Hab ein bisschen Geduld.«
    Ich hatte immerhin zehn Jahre auf meine Tochter gewartet.
    »Und wie soll sie dich finden? Sie war noch nie in Tertenia. Ihr habt euch seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Wie wollt ihr euch überhaupt erkennen?«
    »Da kannst du ganz beruhigt sein. Ich werde sie sicher erkennen.«
    »Aber sie ist kein kleines Kind mehr, sie hat sich vollkommen verändert.«
    »Ich weiß.«
    Ich spürte förmlich, wie sie sich versteifte.
    »Das weißt du? Woher denn, bitte schön?«
    »Lass es einfach gut sein. Ich weiß, wie sie aussieht, und damit basta.«
    Jetzt hatte sich in ihre mütterliche Angst ein Anflug von Misstrauen geschlichen. »Willst du damit sagen, dass ihr euch in letzter Zeit gesehen habt?«
    »Ich will damit sagen, dass ich
sie
gesehen habe. Und zwar nicht nur einmal. Leute zu beschatten, ohne dass sie es merken, ist mein Job, falls du das vergessen hast.«
    »Du erbärmlicher Hund!«
    »Jetzt beruhige dich und geh schlafen. Du wirst sehen, noch vor Mittag rufe ich dich an. Ach, und gib mir lieber mal Aglajas Handynummer. Die könnte ich brauchen, um sie herzulotsen.«
    Schweren Herzens diktierte Clara mir tatsächlich die Nummer meiner Tochter. Ich notierte sie mit einem Bleistift, den ich auf dem Nachttisch liegen hatte, auf das Deckblatt von ›Der große Gatsby‹. Nachdem wir aufgelegt hatten, speicherte ich sie gleich im Adressbuch meines Handys ab, unter »Aglaja Handy«, denn unter »Aglaja« hatte ich bereits die Nummer zu Hause in Chiavari gespeichert. Wenn Clara das jemals mitbekommen hätte, wäre sie wahrscheinlich wieder aus der Haut gefahren. Es hätte für sie so ausgesehen, als hätte ich von unserer Beziehung nur eines wichtig gefunden: den Kontakt zu meiner Tochter.
    Inzwischen war es vier Uhr morgens. Jetzt noch einzuschlafen, erschien mir völlig unmöglich. Also schrieb ich Aglaja eine SMS: »Bist du unterwegs nach Tertenia? Ruf mich bitte sofort an. Papa«, und stand dann auf, um in der Küche den Vermentino aus dem Kühlschrank zu holen. In der Flasche war kaum nochetwas drin. Draußen heulte nach wie vor der Mistral und erfüllte die Nacht mit seinen wild gewordenen Böen. Ich hörte die Äste der Bäume knarzen, als wären sie von einer bösen Macht besessen.
    Ich dachte an meine Tochter. Wenn Aglaja wirklich die Fähre genommen hatte, erlebte sie gerade einen Höllentrip und spie sich vermutlich die Seele aus dem Leib. Aber vielleicht ja auch nicht. Als kleines Mädchen war sie wie ich gewesen, Seegang hatte ihr absolut nichts ausgemacht. Ich erinnerte mich an eine Überfahrt bei Windstärke sechs im Golfo del Leone. Alle übergaben sich, nur sie, damals noch nicht einmal drei Jahre alt, verspeiste mit mir ungerührt einen Mangold-Spinat-Auflauf und amüsierte sich prächtig auf dem vom Wind gepeitschten Oberdeck, wo die Sturzwellen nur so über die Reling spritzten.
    Auf einmal kam es mir so vor, als hörte ich ein Gewinsel vom hinteren Teil der Veranda. Als ich die Tür öffnete, schlug mir der Mistral mit voller Wucht entgegen und ließ mich erschaudern. Ich schaltete die Außenbeleuchtung an und sah, dass die Korbsessel und Virgilios Liegestuhl umgefallen waren und dass der Wind das Wachstuch vom Tisch mit sich fortgerissen hatte. Ich musste mich anstrengen, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können, doch dann bemerkte ich die kleine Promenadenmischung, die zusammengerollt unter dem Tisch lag. Ich ging in die Hocke und versuchte, den Hund zu mir zu locken. So, wie ich ihn an jenem Morgen behandelt hatte, hätte ich zumindest erwartet, dass er mich anknurrte. Aber im Gegenteil – als er sich sicher war, dass ich ihm nichtsBöses wollte, sprang er auf und rannte mir schwanzwedelnd entgegen. Er ließ sich streicheln, zutraulich und zufrieden. Ich ging ins Haus und schnitt ihm eine dicke Scheibe Käse ab. Kaum hatte ich sie vor ihm auf den Boden der Veranda gelegt, schlang er sie mit wenigen Bissen hinunter.
    Jetzt, da wir Frieden geschlossen hatten, fand ich, dass er mich endlich zu seinem mysteriösen Herrchen führen könnte. Aber dazu musste ich das Ende der Nacht abwarten. Um die Wartezeit zu verkürzen, ging ich hinüber in Virgilios Haushälfte, um die dritte Flasche Lagavulin zu suchen. Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er sie nicht irgendwo versteckt hatte. Zu meinem Glück fand ich die Flasche auf Anhieb im unteren Fach der Anrichte.
    Wieder in meiner Wohnung,

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