Der Tod Verhandelt Nicht
ich draußen das Knurren des kleinen Hundes sowie eine helle Silberstimme.
»Ruhig, Kleiner, ganz ruhig.« Und dann, etwas lauter: »Ist jemand zu Hause?«
Ich befreite mich so schnell aus Martines Umarmung, als hätte ich mir an ihrem Kuss die Lippen verbrüht.
»Entschuldigen Sie, aber meine Tochter …«
In ihrem Blick lagen Erstaunen und Enttäuschung, doch ich sprang schon auf und stürzte aus dem Schlafzimmer.
Aglaja stand in der Eingangstür, umgeben von gleißendem Licht wie von einem Heiligenschein. Honigfarbene Reflexe spiegelten sich in ihren offenen Haaren, die ihr glatt und fein auf die Schultern fielen. Zur Salzsäule erstarrt, blieb ich im Flur stehen, während mein Herz wie wild schlug. In meiner Kehle saß eindicker Knoten, der mir die Luft abschnürte. Stumm und fassungslos, aber auch glücklich stand ich da und schaute sie nur an.
Aglaja sah mich mit braunen Augen an, die von langen schwarzen Wimpern umgeben waren. Sie blinzelte einmal kurz und kam mir dann mit unsicheren Schritten entgegen, ohne dabei ihre Augen von meinen zu lösen. Vorsichtig und ganz langsam. Zu aufgeregt oder vielleicht auch nur zu müde, um mich anzulächeln.
Im linken Ohr trug sie ein Piercing, und auf ihrer Nase glitzerte ein winziger Brillant. Sie trug ein rotes Top, unter dem sich ein kleiner, fester Busen abzeichnete, der etwas von einer unreifen Frucht hatte. Das Oberteil war so kurz, dass es den Bauchnabel freiließ. Sie hatte eine ausgewaschene völlig zerschlissene Hüftjeans an, die knapp unterm Knie abgeschnitten war. Ihr Gesicht war blass und angespannt, es zeigte Spuren der anstrengenden Reise. Um ihren Hals hing ein Kopfhörer, der durch ein Kabel mit einem an der Hose befestigten MP 3-Player verbunden war. An den Füßen trug sie Turnschuhe. Ich bemerkte einen kleinen Speckring, der gegen den Hosenbund drückte und ihren kräftigen Körper erahnen ließ. Meine Tochter war robust und gut gebaut, sportlich eben, ein Mädchen mit gesundem Appetit.
»Ciao, Pa«, war alles, was sie hervorbrachte.
»Ciao, Aglaja«, war alles, was ich antworten konnte.
Dann wussten wir beide nicht, was wir tun sollten. Aber das war nur ein kurzer Augenblick. Im nächsten streckte sie mir die Hände entgegen, die ich sogleich ergriff und fest drückte. Sie waren weich und kalt undließen sich umfangen wie zwei zitternde Küken mit einem unstillbaren Bedürfnis nach Fürsorge und Zärtlichkeit.
Vielleicht hätten wir beide weinen und uns umarmen wollen. Vielleicht hätten wir versuchen können, einfach draufloszureden und die Leere der letzten zehn Jahre mit Worten zu füllen, die sich uns ins Gedächtnis einprägen würden. Vielleicht. Stattdessen schwiegen wir, und jeder verlor sich in den Augen des anderen wie in einem Spiegel, der ein schmerzhaftes Glück zeigte, die zaghafte Verheißung einer Zukunft, die die Sehnsucht nach allem stillte, was wir verloren hatten, und die verhinderte, dass es je wieder zerstört werden würde. Ohne Groll und ohne dass man der Vergangenheit nachtrauerte.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich euch jetzt allein lasse«, ertönte Martines Stimme hinter mir. Sie war aus dem Schlafzimmer gekommen und streckte Aglaja nun die Hand entgegen. »
Bonjour
,
Mademoiselle
. Ich bin Martine, eine Freundin Ihres Vaters.« Dann sagte sie zu mir gewandt: »Sie überraschen mich immer wieder, Monsieur Pagano. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie eine so nette Tochter haben.«
»Angenehm«, murmelte Aglaja und gab ihr irritiert die Hand.
Aus ihrer Stimme war gleichzeitig Erstaunen und Verärgerung herauszuhören. Ich hätte mir gewünscht, dass die Französin auf der Stelle verschwand, aber sie schien gerade erst auf den Geschmack gekommen zu sein.
»Verbringen Sie die Ferien hier?«, fragte sie Aglajamit diesem aufgesetzten, gezierten Tonfall, der mich zur Weißglut brachte.
Auf dem Gesicht meiner Tochter zeichnete sich jetzt Unmut ab. Doch sie riss sich zusammen.
»Ja. Aber ich weiß noch nicht, wie lange ich bleibe«, antwortete sie eisig und förmlich.
»
Je comprends
. Dieser Ort hier kann einem Mädchen in Ihrem Alter ja auch nicht viel bieten. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie hier vor Langeweile vergehen.«
»Ich bin zum ersten Mal hier.«
»Es gibt hier wirklich nichts Spannendes für eine junge Frau.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Aglaja etwas ratlos, Wut und Verlorenheit im Blick. »Mein Vater ist hier. Seinetwegen bin ich hergekommen.«
»
Oh, oui.
Das ist natürlich ein guter
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