Der Tod Verhandelt Nicht
Eduardo einmal,
so, wie auch wir Teil der Herzen unserer Kinder werden
. Schade, dass Clara nie darüber nachgedacht und stattdessen das Ziel verfolgt hatte, mich aus dem Gedächtnis meiner Tochter zu löschen.
Endlich entschloss ich mich, das Schweigen zu brechen.
»Es tut mir leid, Aglaja. Wirklich.«
Stumm hielt sie den Kopf zum offenen Fenster gedreht. An manchen Stellen lag der Duft der Zistrosen in der Luft und erfüllte den Pick-up mit einer schwer zu ertragenden, geradezu aggressiven Süße, die die zarteDuftpalette der mediterranen Macchia erdrückte wie eine Primadonna die anderen Sänger im Theater. Ganz so wie die Frau von Ganci. Ein unscheinbares Gewächs ohne jegliche Anziehungskraft. Ein Unkraut, das hartnäckig am Straßenrand stand, ähnlich einer Vorstadtnutte. Und doch war auch dieses Kraut Träger geheimnisvoller Wahrheiten, für die es keine Worte gab. Die ganze mysteriöse Weisheit dieser Erde schwang im Aroma der Zistrose mit.
Er machte mich trunken, dieser Duft, und ließ meine Gedanken weit zurückschweifen, hin zu Momenten des Glücks, die sich einem fest ins Gedächtnis prägten. Wie in der Rückblende eines Films sah ich Clara vor mir, als sie und ich das erste Mal Virgilio in Tertenia besucht hatten. Damals liebten wir uns noch sehr. An einem dieser Abende waren wir, nachdem wir Spanferkel gegessen, viel Cannonau getrunken und gemeinsam einen Joint geraucht hatten, Hand in Hand hinunter zum Strand gegangen, hatten uns in den Sand gelegt und hinauf in den sternenhellen Nachthimmel geschaut.
»Welches ist das schönste Buch, das du im Gefängnis gelesen hast?«, hatte Clara gefragt.
»›Der Idiot‹ von Dostojewski«, hatte ich erwidert. »Und deins?«
»Ich war nicht im Gefängnis.«
Wir lachten alle beide, trunken von Wein, Haschisch und Lebensfreude.
»Dann eben das schönste, das du in diesen Jahren gelesen hast«, sagte ich.
»Auch ›Der Idiot‹.«
»Und welche Figur hat dir am besten gefallen?«
»Nastassja Filippowna. Und dir?«
»Aglaja.«
Vielleicht war es die Nacht von San Lorenzo gewesen, in der unzählige Sternschnuppen vom Himmel fallen und Wünsche wahr werden. Genau in jenem Moment zerriss jedenfalls ein Lichtstrahl die Dunkelheit über dem Monte Cartucceddu.
»Lass uns ein Kind zeugen, und wenn es eine Tochter wird, nennen wir sie Aglaja«, hatte Clara unvermittelt gesagt.
»Ja, das machen wir«, hatte ich lächelnd geantwortet.
Damals war ich noch voller Dankbarkeit für diese Frau, die fünf Jahre auf mich gewartet hatte, bis ich endlich entlassen wurde. Sicher war ich nicht mehr in der Lage, Träume und Hoffnungen zu nähren, aber ich fand immer noch Gefallen daran, etwas zu tun oder zu sagen, um ein Lächeln auf die Lippen der Menschen zu zaubern, die ich liebte. Und Clara liebte ich wirklich. Gut möglich, dass sie sich in diesen fünf Jahren ein falsches Bild von mir gemacht hatte. Die Tatsache, dass ich mit einer gewissen Würde durch die Hölle gegangen war, erst den Prozess, dann die Haft und den Tod meiner Eltern verdaut und am Ende sogar einen geisteswissenschaftlichen Studienabschluss hinbekommen hatte, brachte sie wohl zu der Überzeugung, dass ich ein Mann sei, der wusste, was er wollte, und der ganz in sich ruhte. Sie hatte meine Verzweiflung wohl für Konstanz gehalten. Und ich ihre Zähigkeit für Offenheit und Interesse an mir.
Das war im August 1982 gewesen, sechs Monate nach meiner Entlassung und kurz bevor ich die Weltzu bereisen begann, um den Sinn meines Lebens zu ergründen. Die Zelle in Novara war so eng gewesen, dass ich unbedingt entdecken wollte, wie groß die Welt eigentlich war. Ich hatte einige Zeit gebraucht, um zu kapieren, dass ich nicht den Ozean überqueren musste, um zu entdecken, wie unendlich groß das Universum war. Es reichte völlig, sich in Sardinien an den Strand zu setzen und aufs Meer hinauszuschauen. Oder nachts den Blick zum sternenübersäten Himmel über Tertenia zu erheben. Aber damals war ich noch zu jung und zu rastlos dafür. Sämtliche Stunden des Tages und der Nacht reichten mir nicht, um mir das Leben zurückzuholen, das man mir genommen hatte.
»Aglaja, ich habe gesagt, es tut mir leid«, wiederholte ich jetzt noch einmal. »Antworte mir bitte!«
»Was soll ich sagen?« Sie hatte angefangen, mit meinem Handy herumzuspielen, mit der beleidigten Miene von jemandem, der erwartet, dass der andere den ersten Schritt macht.
»Was weiß ich? Dass du mich trotzdem magst, zum Beispiel.«
»Ich weiß
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