Der Tod Verhandelt Nicht
erworben. Von jemandem wie Otello Ganci allein hätte der Wachmann Virgilio Loi niemals Vergünstigungen angenommen, erst recht nicht jetzt, da er in Rente und Vollzeitbauer war. Zumal sie beide Sarden waren. Etwas, das weit mehr bedeutete, als nur die gleiche geografische Herkunft zu haben: ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das ähnliche Emotionen und Interessen beinhaltete. Doch die beiden gehörten Universen an, die tunlichst getrennt bleiben mussten. Ihre Wege waren dazu bestimmt, einander ewig fremd zu sein.
Der Gecko und der Nachtfalter
Ich traf sie in der Dämmerung, als ich gerade die Müllsäcke zum Container vor dem Haus bringen wollte.
Es war einer dieser wunderbaren Sommerabende, die in Sardinien so häufig waren und die uns Touristen die Vorstellung so schwer machten, irgendwann wieder eine Fähre besteigen und abreisen zu müssen. Und es war wirklich nicht leicht, sich von dem Zauber zu lösen, den das Elixier aus Meer, Licht und Wind dieser Insel verlieh. Sardinien war ein raues, großzügigesLand. Auch Virgilio war so – rau und großzügig. Das war schon damals im Gefängnis von Novara so gewesen, als er noch die Wächteruniform trug, die ihn wie ein Gipsverband einengte, ihn, der die Weite und die Stille der Ogliastra mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Darum hatte er auch alles dafür getan, versetzt zu werden; am Ende war er im Hochsicherheitsgefängnis von Asinara gelandet, einer kleinen Insel vor der sardischen Küste, wo sich Raum und Stille bis zum weiten Horizont des Mittelmeers und bis hoch in das riesige Sternengewölbe des nächtlichen Himmels ausdehnten.
Die lauwarme Luft duftete süßlich nach den Blüten der Rosen-, Oleander- und Jasminstauden, die in den Gärten entlang der Straße in voller Pracht standen. Ich hatte Virgilio und die Mädchen, die die Steaks und die Würstchen für den Grill vorbereiten wollten, einen Moment lang ihrem Schicksal überlassen. Mein Freund war in Tertenia einkaufen gewesen und hatte Pferdekoteletts mitgebracht, über die Aglaja die Nase rümpfte. Die Sarden mochten Pferdefleisch, aber diese Koteletts samt Knochen hatten unbestreitbar etwas Provokantes. Angelica hatte eine Foccaccia mit Kürbis und Zwiebeln gemacht, eine herzhafte, leckere Speise, die Aglaja und Laura schon vor dem eigentlichen Essen verschlungen hatten.
Martine Ganci saß auf der kleinen Steinmauer, die den Garten eines an die Straße grenzenden Ferienhauses umgab, das nur im Juli und August von Touristen bewohnt wurde. Die Französin hatte sich wie immer in ihren Pareo gewickelt, den sie über dem knappen schwarzen Bikini trug. Neben ihr auf der Mauer lagendie Strohtasche und ihr Sonnenhut. Sie sah aus, als warte sie auf jemanden. Ihr Blick begleitete mich das kurze Stückchen Weg, den ich bis zu ihr zurücklegen musste, fast so, als wollte sie mich in der Intimität eines Schlafzimmers empfangen.
»Bonsoir, Monsieur Pagano«
, gurrte sie mit halb geschlossenen Augen und einem anzüglichen Lächeln.
»Bonsoir à vous, Madame.«
Wir hatten beide einen sonnenheißen Tag am Meer hinter uns. Unsere Haut war gerötet, und auf dem Leib trugen wir nichts als die schnell zusammengesuchten Kleidungsstücke nach einem typischen Strandtag: sie den durchsichtigen Pareo und ich ein altes Polohemd und die über den Knien abgeschnittene Jeans. Beide hatten wir jenen erschöpften und glücklichen Ausdruck im Gesicht, den die Natur all jenen schenkt, die in den Genuss ihrer Schönheit kommen.
»Heute waren Sie aber ziemlich unhöflich zu mir«, maunzte sie mit kokettem Blick.
»Unhöflich?«
»
Oui, très impoli, Monsieur
. Sie waren den ganzen Tag am Strand und haben sich nicht dazu herabgelassen, zu mir zu kommen und wenigstens ein paar Worte mit mir zu wechseln.«
»Sie schienen so versunken in ihre Lektüre, dass ich Sie nicht stören wollte.«
»Ja, sicher, die Lektüre war wirklich interessant – und hat mir gezeigt, wie Sie ticken.«
»Wie ich ticke?«
»
Oui
, Sie und Ihre Frau. Und auch Ihre hübsche Tochter. Aglaja ist wirklich ein wunderschöner Name.«Sie griff in ihre Tasche und holte ein Buch heraus. Es war eine Taschenbuchausgabe von ›Der Idiot‹ auf Französisch.
Eine Welle widerstreitender Gefühle überrollte mich. Die gleiche unangenehme Verwirrung stellte sich ein, die ich empfunden hatte, als ich Martine nach dem Eintreffen meiner Tochter aus dem Haus gejagt hatte. Verlegenheit. Zärtlichkeit. Verärgerung. Furcht. Wut. Vielleicht aber auch nur maßloses
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