Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
klickerte leise, als er die Krone zügig kurbelnd in Richtung Boden zog. Obwohl der Stamm zunehmend knisterte, war sich Oberländer sicher, dass der voll im Saft stehende Baum die Spannung aushalten würde. Er war die Antriebsfeder seiner Konstruktion. Vorsichtig schob Oberländer den Sicherungsstift, der durch einen dünnen Draht mit dem Netz verbunden war, in die dafür vorgesehen Öse und fixierte so die Birke in ihrer momentanen Stellung. Sobald Körfgen das Netz betrat, würde sich der Splint lösen und den Baum freigeben.
Während Oberländer Eisen tief in die Erde schlug, Umlenkrollen daran befestigte, das Seil hindurchzog und an der Birke verknotete, malte er sich aus, wie sich diese blitzartig aufrichten und das Netz über das dichte Blätterdach hinaus katapultieren würde. Dort bliebe es dann frei hängen, uneinsehbar, selbst wenn man direkt darunterstünde.
Den schwierigsten Teil seiner Arbeit hatte er schon gestern hinter sich gebracht. Mit einem Bogen hatte er einen Pfeil, an dem eine dünne Schnur angebracht war, über einen der obersten Äste der Rotbuche geschossen. An der herabhängenden Schnur befestigte er nun das eigentliche Zugseil, zog es hoch in den Baum, über den Ast und wieder herunter. Dann machte er es am Netz fest.
Es dauerte keine Stunde, bis Oberländer seine Konstruktion fertiggestellt, die Seile und das unter der Buche ausgebreitete Netz dick mit Laub bedeckt und seine Spuren verwischt hatte. Kritisch betrachtete er mit verschränkten Armen sein Werk, ob er nicht doch etwas übersehen hatte. Aber nur sein Rucksack, der, jetzt schwer bepackt mit seinem Werkzeug, noch an dem dicken Stamm des Baumes lehnte, erinnerte daran, dass er hier zugange gewesen war. Entschlossen packte er ihn und schwang ihn sich auf den Rücken.
Das Gewicht brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Mit den Armen rudernd versuchte er noch, das Unvermeidliche zu verhindern. Vergeblich.
Rücklings stolperte Oberländer in seine eigene Falle.
Mit einem Knall wie ein Peitschenschlag spannte sich das Seil an und riss Oberländer in seinem sich gleichzeitig schließenden Netz in die Höhe. Sekundenbruchteile später durchbrach es das Blätterdach, verharrte für einen Moment in der Schwerelosigkeit, ehe es zwei Meter tiefer von dem Seil wieder aufgefangen wurde und noch eine Weile hin und her schwang.
Oberländer fühlte sich benommen, aber er war bis auf ein paar Kratzer unverletzt. Minutenlang wagte er nicht, sich zu bewegen. Er wollte einfach nicht wahrhaben, was gerade passiert war.
Dann schaute er sich vorsichtig um. Das Netz hatte gehalten, kein Loch hatte sich aufgetan. Der Blick auf den Boden wurde ihm, leider wie geplant, durch das dichte Blätterwerk verwehrt. Aber da, nicht einmal so weit weg, entdeckte er einen kräftigen Ast! Den könnte er erreichen, wenn er sein Gefängnis nur ausreichend zum Pendeln brächte.
Aber zunächst müsste er das Netz soweit öffnen, dass er hindurchkriechen könnte. Doch womit? Seinen Rucksack schien er in dem Moment verloren zu haben, als die Falle auslöste. Jedenfalls lag er nicht mit im Netz.
Panik überfiel ihn. Verzweifelt kehrte er seine Hosentaschen nach außen: links ein Papiertaschentuch, rechts ein kurzer Bleistift.
Sonst nichts! Er trug überhaupt nichts bei sich, womit er auch nur im Geringsten etwas gegen das Drahtseilgeflecht hätte ausrichten können.
Oberländer begann zu schreien. Er riss sich an dem Netz die Finger blutig, biss schließlich tatsächlich hinein, immer und immer wieder, bis ihm am dritten Tag auch der letzte Schneidezahn abgebrochen war. Und er schrie, schrie, schrie. Stunde um Stunde, tage- und nächtelang. Als ihm dann auch noch die Stimme versagte, gab er, entkräftet von Durst und Hunger, auf und versank in einen Dämmerschlaf. Er bemerkte es nicht mehr, als es sich Dr. Körfgen eine Woche später wieder einmal unter der Buche bequem machte, um seine Brotzeit einzunehmen.
23. Oktober 2010
Vera Körfgen legte die Zeitung beiseite und zog die Stirn in Falten. Ein Toter in einem Netz in den Bäumen? Was heutzutage alles passiert, dachte sie, zuckte mit den Schultern und steckte ihre Hände wieder in die Schüssel mit Knödelteig. Gernot, ihr Mann, liebte hausgemachte Klöße.
Es läutete. Hatte er denn keinen Schlüssel dabei? Vera hielt kurz die Hände unters Wasser, griff sich ein Geschirrtuch und ging zur Tür.
»Frau Körfgen?« Ein Mann im Trenchcoat hielt ihr seine Dienstmarke vors Gesicht.
»Ja?« Vera machte
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