Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
dem Leben weiterzumachen. Mein Leben ist bis zur Neige entleert, dass ich mich ohne Walli als Hülle empfinde. Manchmal beschämen mich meine Gedanken. Ich sollte härter sein. Auch passen solche Träume nicht zu mir, doch sie lassen sich nicht unterdrücken.
Auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt schieße ich durch das enge Gitter, treffe auf den Bildschirm. Diesmal sehe ich das Ziel, ein Mann mit kurzem, grauem Haar. Ich rase auf seine Stirn zu – erkenne in einer Nanosekunde, dass er eine Chemotherapie hinter sich hat. Er hat den Krebs besiegt und während dieser Zeit nachgedacht. Seine Haare sprießen zögerlich. Der Kopf zerspringt in kleinste Fragmente.
Der Briefschlitz zerschlägt meinen Traum. Walli ist nicht zu Hause. Ich tappe durch die Kälte des Flurs und bücke mich nach dem bräunlichen Umschlag. Ich reiße ihn sofort auf und eile ins Wohnzimmer, wo ich die DVD ins Gerät einlege. Ein Glas steht bereit, das ich in einem Zug leere.
Ich bin froh, dass Walli nicht im Haus ist. Eigentlich könnte ich mir den Film sparen. Selbst das Datum wurde nicht geändert: 16. 06. 2022. Der Mann in der Totale. Er schaut aus dem Fernseher. Traurig scheint er mir. War er beim letzten Mal auch traurig? Der Parkschein! War das letzte Mal heute?
Langsam nähere ich mich dem Wahnsinn. Zweimal derselbe Tag ist unmöglich. Eine logische Erklärung bietet sich nicht. Der »Groundhog Day« ist ein Hollywoodfilm, aber keine Erklärung. Dass ich träume, wäre zu simpel für meinen analytischen Verstand. Walli fehlt mir. Ihre witzige Überheblichkeit ist besser als Wahnsinn.
Es ist zehn vor elf Uhr. Ich hole meinen Koffer, klappe den Deckel auf. Eine Patrone fehlt. Ich untersuche das Magazin, ziehe den Verschluss zurück. Sie fehlt! Meine Hände zittern. So kann ich keinen Job erledigen. Auf dem Sofa versuche ich meine Nerven zu beruhigen, indem ich die Decke anstarre. Ich kann nicht einfach schlappmachen. Widerstrebend nehme ich den Koffer und gehe.
Alles wie beim letzten Mal. Wann war das? Das Navi dirigiert mich mit äußerster Präzision aus dem Parkhaus und ins Straßennetz hinein. Diesmal erstaunt mich die Geschwindigkeit nicht. Es hat keinen Sinn, Orientierungspunkte zu suchen, die Straße ist eine schmutzige Linie, Häuser rasen als farblose Punkte vorbei und verdichten sich im Rückspiegel. Der Wagen steht. Ich sitze auf der dunklen Seite, passe mein Werkzeug zusammen, prüfe den Wind, lauere. Er kommt allein von rechts. Gedrückt nähert er sich der Granittreppe. Ich habe Zeit, ihn zu beobachten. Er ist traurig. Sein Gesicht kommt mir bekannt vor. Ein Killer darf niemals über die Gesichter der Opfer nachdenken. Trotzdem! Er wirkt unendlich traurig! Die Türen schieben auseinander – der Lichtblitz! –, aber ich bin vorbereitet und schalte für diesen kurzen Moment die Elektronik ab. Er steht auf der obersten Stufe und schaut, wie ein geschlagener Feldherr, zu mir herüber. Das Fadenkreuz klebt auf seiner Stirn, der Schnittpunkt zwischen den Augen. Ich drücke ab. Die Türen gleiten zusammen, ein Lichtblitz brennt in die Zieleinrichtung. Drei Sekunden zum Regenerieren! Die Treppe ist leer.
»Ich habe versagt!«
Ich werfe die TPG -1 auf die Rückbank und fahre. Die Befehle des Navis. »Die nächste Straße nach rechts!« Es macht sich nicht die Mühe, mich in höflicher Form anzureden. Links, rechts, gerade Strecken, in die sich der Wagen einsaugt. Der Tunnel, in dem das Licht verlöscht. Diesmal muss ich das Steuer nach rechts halten. Nichts ist zu sehen, außer der Armaturenbeleuchtung – die Tachonadel ist verschwunden. Ich versuche, mich auf den Weg zu konzentrieren, der unsichtbar bleibt. Die kleinste Berührung mit der Tunnelwand wird den Wagen zerfetzen! Kaum merklich spüre ich die Rechtskurve. Der Wagen schraubt sich in unendliche Tiefe. Plötzlich gleißendes Licht, das meine Augen schmerzt. Ich presse die Lider zusammen, halte eine Hand vor die geschlossenen Augen, stürme blind aus dem stehenden Wagen. Sonnenwärme brennt meinen Kopf. Ich kann nicht in diese schreckliche Helligkeit schauen. Ruhe hüllt mich ein, dass ich mein pochendes Herz höre.
Ich spüre die Umarmung, den Druck eines Körpers, einer Frau.
»Weshalb hast du mich getötet?«
»Walli!«, schreie ich.
»Weshalb?«
»Die Sonne hat mich geblendet!«
Danach kann ich wieder klar denken. Sie umarmt mich, ich brauche nur die Augen zu öffnen, um sie zu sehen, aber ich will den Augenblick absoluten Vertrauens auskosten.
»Du
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