Der Tod wartet
tief.
«Ich schwöre», sagte sie, «so wahr ich auf das ewige Leben hoffe, dass ich ihr nie etwas zuleide getan habe…»
Poirot lehnte sich zurück.
«Das», sagte er, «wäre also geklärt.»
Beide schwiegen. Poirot strich sich nachdenklich den prachtvollen Schnurrbart. Dann sagte er: «Wie sah Ihr Plan eigentlich aus?»
«Welcher Plan?»
«Nun, Sie und Ihr Bruder müssen doch einen Plan gehabt haben.»
Im Geiste zählte er die Sekunden, bis die Antwort kam. Eins, zwei, drei.
«Wir hatten keinen Plan», sagte Carol schließlich. «So weit kam es gar nicht.»
Hercule Poirot stand auf.
«Das ist alles, Mademoiselle. Wären Sie so freundlich, Ihren Bruder zu mir zu schicken?»
Carol erhob sich ebenfalls. Sie blieb einen Moment unschlüssig stehen.
«Monsieur Poirot, Sie – Sie glauben mir doch?»
«Habe ich gesagt», fragte Poirot, «dass ich Ihnen nicht glaube?»
«Nein, aber – » Sie brach ab.
Er sagte: «Würden Sie jetzt Ihren Bruder bitten hereinzukommen?»
«Ja.»
Sie ging langsam zur Tür. Dort blieb sie stehen, drehte sich plötzlich um und rief heftig aus:
«Ich habe die Wahrheit gesagt – die Wahrheit! »
Hercule Poirot gab keine Antwort.
Carol Boynton verließ langsam das Zimmer.
Neuntes Kapitel
A ls Raymond Boynton ins Zimmer trat, fiel Poirot sofort die Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester auf.
Raymond Boyntons Gesicht war ernst und unbewegt. Er schien weder nervös noch ängstlich zu sein. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, sah Poirot fest an und sagte: «Nun?»
Poirot fragte freundlich: «Ihre Schwester hat mit Ihnen gesprochen?»
Raymond nickte. «Ja, als sie mir sagte, dass ich zu Ihnen kommen soll. Mir ist natürlich klar, dass Ihr Verdacht durchaus gerechtfertigt ist. Wenn unser Gespräch an jenem Abend belauscht wurde, dann muss die Tatsache, dass meine Stiefmutter ziemlich unerwartet starb, wohl oder übel Verdacht erregen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass das bewusste Gespräch – nur einer momentanen Verrücktheit entsprang. Wir standen an dem Abend unter einer unerträglichen nervlichen Anspannung. Diese phantastische Idee, meine Stiefmutter umzubringen, das war doch nur – wie soll ich es ausdrücken – damit wollten wir doch nur irgendwie Dampf ablassen!»
Hercule Poirot nickte langsam und bedächtig.
«Das», sagte er, «ist eine Möglichkeit.»
«Am nächsten Morgen kam uns das Ganze natürlich ziemlich – abwegig vor. Ich schwöre Ihnen, Monsieur Poirot, dass ich nie wieder daran gedacht habe!»
Poirot erwiderte nichts.
Raymond sagte schnell: «O ja, ich weiß, so etwas kann man leicht behaupten. Ich erwarte ja nicht, dass Sie mir bloß auf mein Wort hin glauben. Aber sehen Sie sich die Fakten an. Ich habe kurz vor sechs mit meiner Mutter gesprochen. Und da war sie noch gesund und munter. Dann ging ich in mein Zelt, um mich frisch zu machen, und anschließend zu den anderen ins Gemeinschaftszelt. Und das haben sowohl Carol als auch ich danach nicht mehr verlassen. Alle konnten uns dort sehen. Begreifen Sie doch, Monsieur Poirot, dass meine Mutter eines natürlichen Todes starb – an Herzversagen –, anders kann es nicht gewesen sein! Es waren doch Diener in der Nähe, ein ständiges Kommen und Gehen. Etwas anderes ist völlig absurd.»
«Wissen Sie eigentlich, Mr Boynton», fragte Poirot ruhig, «was Miss King aussagt? Sie sagt, als sie die Leiche um halb sieben untersuchte, war der Tod mindestens eineinhalb Stunden und vermutlich sogar zwei Stunden früher eingetreten.»
Raymond starrte ihn an. Er war wie vor den Kopf geschlagen.
«Das hat Sarah gesagt?», stieß er hervor.
Poirot nickte. «Was haben Sie dazu zu sagen?»
«Aber – das ist unmöglich!»
«So lautet Miss Kings Aussage. Und nun kommen Sie und erzählen mir, dass vierzig Minuten bevor Miss King die Leiche untersuchte, Ihre Mutter noch gesund und munter war.»
«Aber so war es!», sagte Raymond.
«Nehmen Sie sich in Acht, Mr Boynton.»
«Sarah muss sich irren! Sie muss irgendeinen Faktor nicht berücksichtigt haben. Dass die Felsen die Hitze zurückstrahlen – was weiß ich. Ich versichere Ihnen, Monsieur Poirot, dass meine Mutter kurz vor sechs noch lebte und dass ich mit ihr sprach.»
Poirots Gesichtsausdruck verriet nichts.
Raymond beugte sich eindringlich vor. «Monsieur Poirot, ich weiß, was Sie denken müssen, aber betrachten Sie die Sache objektiv. Sie sind voreingenommen. Das liegt vermutlich in der Natur der Sache. Sie leben in einer Welt des
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