Der Tod wartet
Ginevra Boynton.
Um 18.30 Uhr, als das Abendessen fertig war, wurde ein Diener zu Mrs Boynton geschickt, um sie zu holen.
Nachdem der Colonel die Aufstellung gelesen hatte, war er hoch zufrieden.
«Kolossal!», sagte er. «Genau das, was ich haben wollte! Sie haben es ziemlich schwer gemacht – und scheinbar belanglos –, exakt so, wie es sein muss! Im Übrigen scheinen Sie mir ein oder zwei wichtige Fakten ausgelassen zu haben. Aber damit wollen Sie wohl jemand auf den Leim führen, stimmt’s?»
Poirots Augen blitzten kurz auf, doch er gab keine Antwort.
«Zum Beispiel Punkt zwei», sagte Colonel Carbury versuchsweise. « Dr. Gérard vermisste eine Injektionsspritze. Richtig. Aber er vermisste auch eine konzentrierte Lösung Digitalis oder wie das Zeug heißt.»
«Letzteres», sagte Poirot, «ist nicht in der gleichen Weise von Bedeutung wie das Fehlen der Spritze.»
«Hervorragend!», sagte Colonel Carbury und strahlte über das ganze Gesicht. «Denn das kapiere ich nun überhaupt nicht. Für meine Begriffe ist das Digitalis nämlich viel wichtiger als die Spritze! Und wieso taucht eigentlich immer wieder ein Diener auf? Der Diener, der ihr sagen soll, dass das Abendessen fertig ist – und dann der Diener, dem sie nachmittags mit dem Stock gedroht hat? Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, dass einer meiner geistig minderbemittelten Wüstensöhne sie um die Ecke gebracht hat? Denn das » , fügte Colonel Carbury in strengem Ton hinzu, «das wäre gemogelt. »
Poirot lächelte, gab jedoch keine Antwort.
Als er Carburys Büro verließ, murmelte er vor sich hin:
«Unglaublich! Diese Engländer werden doch nie erwachsen!»
Elftes Kapitel
S arah King saß auf der Kuppe eines Hügels und riss zerstreut wilde Blumen ab. Dr. Gérard saß neben ihr auf einem groben Steinmäuerchen.
Plötzlich sagte sie heftig: «Warum mussten Sie die ganze Sache ins Rollen bringen? Wenn Sie nicht gewesen wären-»
Dr. Gérard sagte langsam: «Sie meinen, ich hätte schweigen sollen?»
«Ja.»
«Obwohl ich wusste, was ich wusste?»
« Gewusst haben Sie gar nichts», sagte Sarah.
Der Franzose seufzte. «Sie täuschen sich. Aber ich gebe zu, dass man nie absolut sicher sein kann.»
«Doch, das kann man», sagte Sarah kompromisslos.
Der Franzose zuckte mit den Schultern. «Sie vielleicht!»
«Sie hatten Fieber», sagte Sarah, «hohes Fieber. Da konnten Sie doch nicht klar denken! Die Spritze war vermutlich die ganze Zeit da. Und was das Digitoxin anbelangt, könnten Sie sich geirrt haben, oder einer der Diener könnte sich an Ihrer Tasche zu schaffen gemacht haben.»
Gérard sagte zynisch: «Keine Sorge, meine Liebe! Die Indizien sind aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Beweiskraft. Sie werden sehen, Ihre Freunde, die Boyntons, kommen ungestraft davon!»
«Das will ich ja gar nicht», sagte Sarah hitzig.
Er schüttelte den Kopf. «Sie sind unlogisch!»
« Sie waren doch derjenige», verkündete Sarah, «der sich damals in Jerusalem des Langen und Breiten darüber ausließ, dass man sich nicht einmischen soll! Und was tun Sie?»
«Ich habe mich nicht eingemischt. Ich habe lediglich gesagt, was ich weiß!»
«Und ich sage, dass Sie es nicht wissen. O Gott, jetzt geht das schon wieder los! Wir argumentieren mal wieder im Kreis.»
Gérard sagte sanft: «Es tut mir Leid, Miss King.»
Sarah fuhr mit leiser Stimme fort:
«Im Grunde sind sie gar nicht frei – keiner von ihnen! Denn sie ist immer noch da! Selbst über den Tod hinaus lässt sie sie nicht los. Sie hatte etwas – etwas Grauenerregendes an sich – und obwohl sie tot ist, ist sie noch genauso Grauen erregend wie zu Lebzeiten. Ich glaube – ja, ich glaube tatsächlich, dass sie das alles richtig genießt! »
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Dann sagte sie in völlig anderem Ton, mit ganz normaler Stimme: «Da kommt der kleine Mann den Hügel herauf.»
Dr. Gérard drehte sich um. «Ah! Ich glaube, er ist auf der Suche nach uns.»
«Ist er eigentlich so töricht, wie er aussieht?», fragte Sarah.
Dr. Gérard sagte ernst: «Der Mann ist alles andere als ein Tor.»
«Das habe ich befürchtet», sagte Sarah King.
Mit düsteren Blicken verfolgte sie Hercule Poirots Weg bergauf.
Als er bei ihnen ankam, stieß er ein lautes «Uff» aus und wischte sich die Stirn ab. Dann blickte er betrübt hinunter auf seine Lackschuhe.
« Hélas! » , sagte er. «Dieses steinige Land! Meine armen Schuhe.»
«Sie können sich ja Lady Westholmes
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