Der Tod wirft lange Schatten
der Auftakt zu größeren Auseinandersetzungen sein. Sie wußten, daß der Vergleich mit der Risiera di San Sabba, dem ehemaligen deutschen Vernichtungslager, idiotisch war, aber sie wollten Aufsehen. Je mehr sich die Leute aufregten, desto besser.
*
Gegen sieben Uhr stieg Proteo Laurenti müde und leicht angetrunken die Treppen zum Haus hinauf. Er war die letzten Meter zum Strand zurückgeschwommen und hatte, dem Rat des Fischers aus Santa Croce folgend, noch im Wasser dem Fisch die Harpune durch die Kiemen gejagt. Obwohl kaum damit zu rechnen war, daß irgend jemand aus der Familie Laurenti zu dieser Zeit auf den Beinen war, trug er den »Fang« mit falschem Stolz ins Haus, legte ihn in der Küche auf eine lange Schale, plünderte die Eiswürfelvorräte aus dem Gefrierfach und drapierte sie um den Fisch. Dann setzte er Kaffee auf, ging ins Bad und duschte heiß, bis der Anflug von Trunkenheit verschwunden war, den er dem Wein des Fischers verdankte. Als er zurück in die Küche kam, sah er, daß Livia, seine älteste Tochter, die fauchende Kaffeemaschine vom Herd nahm und mit zwei Tassen auf ein Tablett stellte.
»Du bist schon auf?« fragte Laurenti. »Schau, was ich gefangen habe.«
Aber statt eines lobenden Wortes sagt sie nur: »Ich muß dringend mit dir reden.« Ihr Gesichtsausdruck war alles andere als unbeschwert und Laurenti machte sich schon darauf gefaßt, mit seiner Tochter Beziehungsprobleme zu wälzen. Sie trug das Tablett auf die Terrasse hinaus, setzte sich und steckte sich hastig eine Zigarette an. Laurenti gefiel es nicht, daß sie so früh am morgen schon rauchte. Livia hatte Kummer, das sah man auf den ersten Blick.
»Es ist etwas Schlimmes passiert.« Mit halberstickter Stimme erzählte sie, was sie bedrückte. Laurenti wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum du dazu ein Auto brauchst, wenn du das ganze Meer vor dir hast!« Er stand auf und suchte nach der Zeitung von gestern. Ungeduldig blätterte er die Seiten um. »Aber wenigstens bist du nicht die einzige, der so ein Blödsinn passiert. Hier, ich les dir vor:
Revisionsgericht: Sex im Auto bleibt auch im Dunkeln strafbar. Selbst wenn es stockdunkel ist und Sie sich für ein eiliges Zusammensein mit dem Geliebten einen abseits gelegenen Platz gesucht haben, hüten Sie sich davor, seinen Reißverschluß zu öffnen, um Oralsex zu praktizieren. Soviel Leidenschaft, auch wenn sie mit Diskretion ausgeführt wird, kostet Sie drei Monate hinter Gittern. Das mußte eine reife Römerin erfahren, die mit ihrem Geliebten Carmine P. in einer pechschwarzen Winternacht zu einem abgelegenen Parkplatz fuhr. Die Besatzung eines Streifenwagens hegte Verdacht, und die Überprüfung mündete in eine Anzeige wegen obszöner Handlungen in der Öffentlichkeit. Die 69-jährige Großmutter Marisa handelte sich eine Verurteilung zu 90 Tagen Gefängnis ein, die nun vom Berufungsgericht bestätigt wurde. Vergeblich hatte die Signora beteuert, daß sie nicht die geringste Absicht gehabt hatte, die öffentliche Ordnung zu stören. Doch für die Richter der Dritten Strafkammer des Revisionsgerichts ist all dies ohne rechtlichen Belang, da eben nicht ausgeschlossen werden könne, daß trotz später Stunde und Abgelegenheit des Ortes zufälligerweise jemand vorbeikomme. Marisa hätte also, bevor sie ihren Kopf senkte, den Alkoven komplett verdunkeln müssen.«
Laurenti lachte und warf die Zeitung auf den Tisch. »Ich kann mir genau vorstellen, wie sich die Richter drei Instanzen lang jedes Detail schildern ließen. ›Und was haben Sie dann genau gemacht, nachdem Sie ihrem Begleiter die Hose geöffnet hatten?‹«
Seiner Tochter war nicht nach Späßen zumute. »Die spinnen doch«, schimpfte sie. »Diese Gesellschaft wird immer prüder. Absenkung der Promillequote, der Führerschein nach Punkten, diese lächerlichen Aufdrucke auf den Zigarettenpackungen, kürzere Öffnungszeiten für Diskotheken, das Gesetz, mit dem Marihuana zur harten Droge erklärt wird, und dann auch noch das.«
»Wo war es?«
»Hier in der Nähe. Oben auf San Primo, dem Hügel zwischen Santa Croce und Prosecco.«
»Der Weg ist doch für Autos gesperrt.«
»Papà, es war heute morgen um halb drei!«
»Verkehrsschilder haben keine Nachtruhe. Man sollte bei dieser Trockenheit wirklich nicht mit dem Auto in den Wald fahren. Wenn sich ein Grashalm oder trockenes Laub am Auspuff entzündet, steht der Karst in Flammen.«
»Darum geht es doch nicht.«
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