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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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Dort, von wo täglich die Horrormeldungen über die maroden Flüchtlingskähne aus Libyen und Tunesien kamen, dazu die Berichte von Anlandungen, die mit griechischen oder zypriotischen Seelenverkäufern versucht wurden, die höchstens noch zum Abwracken taugten, oder mit albanischen Schnellbooten. Die Küstenwache da unten war im Dauereinsatz und kam mit den Tragödien der modernen Welt täglich direkt in Berührung. Sie mußte Schiffe auf hoher See abfangen, die skrupellosen Schleuser auf ihren wendigen, hochmotorisierten Booten jagen, und dabei immer damit rechnen, daß diese, um den Fängen der italienischen Behörden zu entkommen, ihre menschliche Fracht einfach ins Meer stießen, egal ob die armen Leute schwimmen konnten oder nicht. Hunderte von Leichen hatten die Männer an der apulischen Küste allein schon in diesem Jahr aus dem Meer gezogen. Diese Beförderung hörte sich geradezu nach einer Strafe an. Laurenti verstand plötzlich, weshalb Orlando tobte.
    »Kommt man denn nie zur Ruhe?« fluchte der Seebär. »Da wird man befördert, weil man gute Arbeit leistet, und dann muß man gleichzeitig für die Großzügigkeit der Vorgesetzten büßen. Als gäbe es das Gute nicht ohne das Schlechte. Da fragt man sich, warum man gute Arbeit leistet, wenn das der Lohn ist!«
    »Die Guten braucht man da, wo’s klemmt«, sagte Laurenti und dachte an den Fall, den der Staatsanwalt ihm soeben serviert hatte. »Du bist bei der Marine, mein lieber Junge. Du bist ein Soldat. Und Soldaten bekommen Befehle. Das müßtest du inzwischen gelernt haben.«
    »Red keinen moralischen Mist. Was willst du, wenn du nicht angerufen hast, um mir dein Bedauern mitzuteilen?«
    »Vielleicht solltest du einmal mit Doktor Galvano reden.«
    »Dem alten Gerichtsmediziner? Bist du wahnsinnig? Der schnibbelt so lange an meiner Frau herum, bis er den Totenschein ausstellen kann.«
    »Galvano ist im Ruhestand. Aber er kennt eine Menge Leute vom Fach. Red mit ihm, oder ich tu das für dich. Natürlich ohne deinen Namen zu nennen.« Er vernahm ein unwilliges Brummen am anderen Ende der Leitung. »Ich habe dich wegen etwas anderem angerufen. Habt Ihr irgendwelche Meldungen erhalten über ein schnelles Schlauchboot, das in den letzten Wochen wiederholt bei den Filtri gesehen wurde? Ohne Kennzeichen. Zwei Frauen drauf. Immer frühmorgens zwischen fünf und sechs Uhr. Sie kommen, übernehmen im kleinen Hafen wasserdichte Behälter von einigem Gewicht und hauen wieder ab. Weißt du etwas davon?«
    Auf der anderen Seite der Leitung herrschte für einige Sekunden Stille. Laurenti wollte bereits nachfragen, als der Bariton Orlandos lautstark flüsterte: »Ich weiß davon, aber ich kann dir nichts sagen. Nicht am Telefon. Komm heute nachmittag vorbei. Sagen wir um sechzehn Uhr.«
    Bevor Laurenti antworten konnte, hatte Orlando aufgelegt. Er schaute ratlos auf den Hörer und überlegte, was das zu bedeuten hatte. Zwei seltsame Neuigkeiten: Orlandos Versetzung und daß da irgend etwas lief, über das man nicht laut reden konnte. Das war kein gutes Omen.
    »Was willst du?« knurrte er Sgubin an. »Raus mit der Sprache.«
    »Du warst es, der mich rufen ließ«, antwortete Sgubin kleinlaut. Er hatte längst begriffen, daß sein Chef plötzlich schlechte Laune hatte. Sehr schlechte.
    Laurenti lehnte sich einen Augenblick im Stuhl zurück, dann griff er das Schreiben auf seinem Tisch, erhob sich und salutierte mit einem ziemlich verschlagenen Gesichtsausdruck. »Gratuliere zur Beförderung. Du hast das große Los gezogen! In zwei Wochen bist du mich los.«
    Sgubins Gesichtszüge hellten sich auf. »Tatsächlich? Zeig her.«
    »Keine Sorge. Du mußt nicht nach Staranzano, nicht nach Arcore, auch nicht nach Brixen. Nicht einmal nach Lampedusa schickt man dich. Du hast Glück gehabt und darfst in der Zivilisation bleiben. Also, rat mal!«
    Sgubin machte ein Gesicht, als könnte er sich nicht zwischen Beklemmung und Befreiung entscheiden. Laurenti gab ihm das Papier, ließ sich auf den Stuhl fallen und legte die Beine auf den Schreibtisch. Er beobachtete ganz genau Sgubins Reaktion.
    Zuerst das Suchen nach der Botschaft, dann das enge Zusammenziehen der Stirnfalten, das kein Ausdruck von Freude war, schließlich die Glättung, die hieß, daß er eilig rationalisierte, was ihm instinktiv nicht gepaßt hatte. Und dann dieser Blick zu ihm hinüber: Die Frage nach der Meinung des Chefs. Und bevor dieser antworten konnte, sagte Sgubin: »Na ja, Gorizia ist zwar nicht der

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