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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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Und wenn sie Lust hätte, dann könnten sie auch noch zum Schwimmen ans Meer fahren. Mia lehnte ab, wollte aber in den nächsten Tagen darauf zurückkommen.
    Sie fuhr mit dem Bus in die Stadt, alleine. Das Zentrum war wie ausgestorben. Die massiven Paläste strahlten, wie von der Sonne aufgeladene Speicher, eine enorme Hitze ab. Mia fragte sich zu der Adresse der Notarin durch, bei der die Erbsache von Tante Alda lag. Sie hatte am Telefon gleich einen Termin für den späten Nachmittag erhalten und war viel zu früh dran. Das Erdgeschoß des neoklassizistischen Palasts am Corso Italia wurde von einer Filiale der Banca di Roma eingenommen, wo Mia gleich ein Konto eröffnete. Trotz der Ruhe in den Straßen herrschte in der ausladenden Schalterhalle Betrieb. Alle Stühle vor den Bankangestellten waren belegt, nur in einer Nische saß ein drahtiger, dunkelhaariger Mann mit freundlichem Gesicht hinter dem Schild »Direzione«. Mia ging auf ihn zu und stellte sich vor. Der Mann sprach mit sizilianischem Tonfall, den sie von weitläufigen Verwandten kannte. Er war sehr freundlich und bat sofort eine Mitarbeiterin, die Sache zu bearbeiten.
    »Wo gefällt es Ihnen besser?« fragte er dann. »In Sydney oder in Triest?«
    Irgendwann bemerkte Mia, daß sie ihre ganze, lange Geschichte erzählte, mit allen Ausschweifungen, und der Direktor ihr aufmerksam dabei zuhörte. Sie vertraute sich einem wildfremden Mann an, nur weil er so freundliche Augen hatte und den Eindruck machte, ein guter Zuhörer zu sein. Nicht einmal das abgebrochene Studium verschwieg sie. Als sie schilderte, wie sie ihre Verehrer in Sydney sitzen ließ, lachte er herzlich. Eine halbe Stunde später trat sie in die sengende Hitze hinaus. Die Unterlagen ihres neuen Kontos in der Hand, suchte sie die Treppe zu den anderen Büroetagen. Die Notarin, eine alterslose Dame mit dunklen Schatten unter den ausdruckslosen Augen und einem grauen Gesicht, das seit Jahren keine Sonne gesehen zu haben schien, begrüßte sie mit mattem Händedruck und führte sie in ein Besprechungszimmer, wo die Akte bereits auf dem Tisch lag. Die Dottoressa breitete die Unterlagen aus und legte einen Schlüsselbund daneben.
    »Ihre Mutter, als Alleinerbin, war damals nur kurz hier, als Ihre Großtante beerdigt wurde. Sie leistete lediglich die notwendigen Unterschriften, um das Erbe anzunehmen, und hatte keine Zeit, die einzelnen Objekte in Augenschein zu nehmen. Später hat sie sie dann auf Sie überschrieben. Die Akte ist uns vom Konsulat überstellt worden. Viel ist es nicht. Das Wohnhaus und zwei kleine Grundstücke in Servola, dann diese Lagerhalle im Industriegebiet, deren Zugehörigkeit wir erst jetzt klären konnten. Ein Teil des Terrains wird zur Zeit ohne Genehmigung von einem Autolackierer genutzt, der dort seinen Schrott lagert. Sie werden ihn vermutlich nur mit der Hilfe eines Anwalts los. Hier sind die Schlüssel. Ich nehme an, daß dort die letzten zwanzig Jahre niemand mehr war, seit dem Tod Ihres Onkels. Ich glaube nicht, daß Alda davon wußte, sonst hätte sie die Immobilie sicher verkauft, um ihre Rente aufzubessern. Mein Mitarbeiter wird Sie in den nächsten Tagen gern hinführen.« Die Notarin griff zum Telefonhörer und rief einen Mann namens Calisto, der im Sekretariat damit beschäftigt war, Akten zu ordnen. Im Gegensatz zu seiner Chefin verbrachte er wohl viel Zeit im Freien. Ein braungebrannter, schlanker Mann Mitte Vierzig, den Mia eher am Strand oder auf einer Segelyacht als in einem Notariat vermutet hätte. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen.

Erste Schritte hinaus
    Der elegant gekleidete alte Herr saß fast jeden Abend am selben Tisch. Als machte ihm die Hitze nichts aus, trug er einen grauen Dreiteiler und Krawatte und legte niemals sein Jackett ab. Er war hochgewachsen und hager. Sein mächtiger Schädel lastete auf dem dürren Hals, als gehörte er zu einem anderen Körper. Wachsam folgten seine Augen jeder Bewegung in der Umgebung, und neugierig belauschte er die Gespräche an den Nebentischen, ohne es sich anmerken zu lassen. Zu seinen Füßen lag stets ein schwarzer Hund, der an Hundejahren den Alten noch übertraf. Wie treue Freunde, die von ihren Gewohnheiten nicht lassen können, die sie seit Jahrzehnten verbinden, folgten sie ihren Ritualen. In regelmäßigen Abständen tauchte die Hand des Mannes unter die Tischdecke. Der Hund hob gemächlich den Kopf und nahm vorsichtig und ohne Hast ein Stück Brotkruste oder Grissini zwischen die

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