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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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und setzte eine Brille mit schmutzigen Gläsern auf, um das Etikett zu betrachten. »Angelo«, rief sie zum Fenster hinaus. »Australischer Wein! Schau, was Mia uns mitgebracht hat. Shiraz! Wußtest du, daß es Wein gibt in Australien?«
    Aus dem Garten hinter dem Haus waren unverständliche Laute zu vernehmen.
    »Hast du Alda gekannt?« fragte Rosalia, während sie das Mittagessen zubereitete. Sie hatte Mia mit viel Mühe zum Bleiben überredet und ihr versprochen, nachher beim Hausputz zu helfen, obgleich sie die Siebzig längst überschritten hatte.
    »Ich kann mich kaum mehr an sie erinnern. Es ist so lange her.«
    »Angelo«, rief die Nachbarin zum Fenster hinaus, »wir essen.« Sie stellte den Topf mit der dampfenden Pasta auf den Tisch. »Ich erinnere mich noch gut an die Jahre, als deine Familie auswanderte. 1954 war das. Die Lage in Triest war schlimm. Ein Drittel der Bevölkerung ging damals weg, fast hunderttausend Leute. Lauter gut ausgebildete Arbeiter. Die Australier suchten Arbeitskräfte, und hier herrschte Chaos. Den Esuli, den italienischen Flüchtlingen aus Jugoslawien, hatte man ja Geld, Wohnung und Arbeit versprochen. Die Einheimischen kamen zu kurz. Die Stadt war danach nicht mehr dieselbe. Die Wohnblocks dort unten wurden alle für die Esuli gebaut. Wo du hinschaust, alles für die. Aber deine Großeltern und deine Mutter hatten ja Glück. Sie waren reich.«
    »Reich?« protestierte Mia, die nicht wußte, was Armut bedeutete. »Sie hatten nichts, als sie in Australien ankamen.«
    Der Sohn stapfte herein und wusch sich wortlos die Hände am Spülbecken. Dann setzte er sich zu ihnen und öffnete die Flasche, ohne sie näher zu betrachten.
    »Sie hatten reiche Verwandte«, fuhr die alte Rosalia fort. »Sie mußten nicht in die Auffanglager und dann die erstbeste Arbeit annehmen. Sei froh, daß es so war. Die Jahre damals waren nicht einfach. Mein Bruder ging auch nach Australien. Er ist dort gestorben. Aber er hatte es auch geschafft. Er heiratete und gründete einen kleinen Betrieb. Seine Kinder kommen jeden Herbst zu Besuch. Ich war nur einmal dort, zu seiner Beerdigung. Mir gefällt es hier besser. Dort drüben ist alles viel zu groß. Aber erzähl, was du vorhast. Wie lange willst du bleiben?«
    »Vielleicht den Sommer über. Ich weiß es noch nicht. Ein paar bürokratische Dinge muß ich für meine Mutter erledigen, und dann wollte ich sehen, wo ich eigentlich herkomme.«
    »Wenn du willst, zeige ich dir die Stadt, und am Abend lad ich dich zu einer Pizza ein«, sagte Angelo und nahm einen großen Schluck. »Der Wein ist gut.«
    Mia hatte keine Lust auf einen Fremdenführer und erst recht nicht auf Pizza. »Danke, aber ich muß erst einiges erledigen. Ich brauche einen Leihwagen. Wo krieg ich den her?«
    »Bei meinem Freund Nicola an der Stazione Marittima.« Angelo schaute sie neugierig an. »Außer«, sagte er, »du willst den Wagen deiner Tante nehmen.«
    »Ich wußte gar nicht, daß sie einen hatte.«
    »Der ist doch nichts für die junge Dame«, protestierte seine Mutter. »Außerdem steht er schon seit Jahren.«
    »Ich mache jede Wette, daß er sofort anspringt, sobald man eine neue Batterie reinhängt. Diese Autos sind nicht totzukriegen.«
    »Wo steht er?« fragte Mia, die neugierig geworden war.
    »Im Schuppen vor dem Haus. Garage will ich dazu nicht sagen.«
    »Da paßt doch kein Wagen rein«, sagte Mia, die zu Hause einen Pickup fuhr.
    »Der schon. Ich geh gleich nachher rüber.«
    Mia bestand darauf, den Abwasch zu erledigen, während die alte Frau ihr Putzzeug zusammensuchte. Dann machten sie sich im Haus der Tante an die Arbeit. Wenig später fuhr Angelo mit seinem Wagen auf den Hof und räumte die Tür zu dem von Sträuchern überwucherten Verschlag frei. Mia lief neugierig hinaus. Unter einer dicken Staubschicht stand ein Cinquecento auf platten Reifen.
    »Kriegst du den wirklich wieder flott?« fragte sie mißtrauisch.
    »Wie alt bist du?« Er tastete sie mit seinen Blicken ab.
    »Zweiunddreißig, warum?«
    »Der da ist älter. Wart’s ab.«
    Angelo war es tatsächlich gelungen, den alten Fiat der Tante wieder zum Laufen zu bringen. Er wusch ihn, wechselte die Reifen und besorgte ihr sogar eine Zulassung. Das Fahrzeug aus den frühen Sechzigern spottete allem technischen Fortschritt später gebauter Automobile Hohn und sprang nach einigen Handgriffen Angelos sofort an. Angelo bestand darauf, mit Mia auszufahren, ihr den Wagen zu erklären und den Weg in die Stadt zu zeigen.

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