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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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mitgenommen hatte, schwer verletzt wurde, machte sich aber auch Laura Sorgen, ob er überleben würde. Laurenti hatte ihn in einer waghalsigen Fahrt in eine Tierklinik in Udine bringen lassen, und der Einsatz des Dienstwagens hatte ihn in Erklärungsnotstand gebracht. Das menschliche Mitleid mit Hunden setzte der Kritik aber bald ein Ende. Laurenti war wütend gewesen, denn hätte es sich um einen illegalen Einwanderer gehandelt, wäre er nicht ungeschoren davongekommen.
    Der Hund war kaum aus der Tierklinik, als Galvano den Vorschlag machte, ihn zu übernehmen. Laurentis Proteste überhörte er. Am Ende gab Lauras Einwand den Ausschlag, daß es für den Alten besser sei, wenn er jemanden an der Seite hätte. Auch wenn es ein Hund war. Sie vereinbarten, daß Galvano dafür die Rechnung der Tierklinik übernehmen sollte, und stießen auf die Freundschaft an. Doch der Alte konnte nicht leben, ohne das letzte Wort zu haben. »Der Mensch ist der beste Freund des Hundes. Aber nicht jeder«, murmelte er.
    Niemals mehr seit dem Tod seiner Frau hatte ihn jemand mit seinem Vornamen angeredet, und als Proteo Laurenti ihm einst lachend gesagt hatte, daß er ihn lediglich für eine exzentrische Erfindung hielt, redete Oreste John Achille Galvano zwei Wochen lang nicht mehr mit ihm. Laurenti wurde eines Beßren belehrt, denn alle Dokumente, die der Gerichtsmediziner ausstellte, waren mit diesen Namen unterzeichnet. Das war über zwei Jahrzehnte her. Laurenti nannte ihn seither nur »Doc«, wie er es aus amerikanischen Filmen kannte. Die anderen blieben stets beim Nachnamen, manche setzten sogar höflich ein »Professore« davor. Er war verbittert, als man ihn aufs Altenteil abschob. Plötzlich herrschte eine unerträgliche Stille um ihn herum, und es schien, als hätten ihn alle schlagartig vergessen. Nur die Laurentis kümmerten sich um Galvano, was er ihnen manchmal übelnahm, denn er wollte kein Mitleid, er wollte einfach weiterarbeiten wie zuvor.
    In diesem Jahr allerdings, in dem man in der Stadt einige Jubiläen feierte oder plante, erinnerte man sich wieder an ihn. Der nun Dreiundachtzigjährige war plötzlich ein gefragter Zeitzeuge für die wechselvolle Triestiner Nachkriegsgeschichte, die er aus dem Blickwinkel des Leichenschauhauses kannte. Es waren die Jahre der alliierten Verwaltung bis 1954, als die Stadt von den Engländern und Amerikanern regiert wurde und Stacheldraht und Schlagbäume das »Territorio Libero di Trieste« von den Staatsgrenzen Italiens und Jugoslawiens abtrennten. 1953, als italienische Nationalisten, die für die »Italianità« der Stadt demonstrierten, sich mit den Engländern anlegten, wurden Steinwürfe mit scharfer Munition beantwortet und die Toten zu Märtyrern gemacht, die noch fünfzig Jahre später der extremen Rechten zur Stimmungsmache dienten. Befreier wurden als Besatzer bezeichnet, und manchmal waren sie überheblich genug, sich auch so zu verhalten.
    Galvano erzählte im Radio von den illusionsreichen Jahren ab 1954, die zum zweiten Mal in einem Jahrhundert Rom auch für Triest zur Hauptstadt machten, von den Spannungen des Kalten Krieges, und er erzählte von Spionen, Schmugglern, Kommunisten und Flüchtlingen vor dem Kommunismus, Alt- und Neo-Faschisten und Stalinisten, von Arbeitslosigkeit und Wohnungsmangel, Auswanderung und vielen alten Rechnungen, die beglichen, sowie Kriegsverbrechen, die unter den Teppich gekehrt wurden. Und er nannte einige Kollaborateure aus der Zeit der Nazibesatzung beim Namen, die sich ungestört ein neues Leben eingerichtet hatten. Zur Hochform lief er auf, wenn er von dem Besuch von J.F. Kennedy in der Stadt erzählte, oder vom dritten Konzert der Callas im Teatro Verdi schwärmte oder stolz behauptete, mit Louis Armstrong nach dessen Auftritt die ganze Nacht durchgemacht zu haben. Als junger Kerl habe er der noch jüngeren Sophia Loren die Hand geküßt. An die Tumulte um die Erstaufführung von Fellinis Dolce vita konnte er sich gut erinnern und natürlich war er im Publikum, als Pasolini erstmals Elsa Morante und ihr Werk vorstellte. Er kannte die Erzählungen der Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft und die der Partisanen und Juden, die die deutschen Konzentrationslager überlebt hatten. Es gab Hilfslieferungen aus dem Marshall-Plan und der Blick war nach Argentinien, Kanada, USA und Australien gerichtet, von wo die Post der Auswanderer eintraf. Und nicht fehlen durfte die Geschichte, wonach er sich mit Francis Ford Coppola angefreundet

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