Der Tod wirft lange Schatten
Zähne und zerkaute das knusprige Gebäck so laut, daß jeder unweigerlich nach der versteckten Ursache des Geräuschs suchte. Ein tiefer Seufzer des Tieres folgte, wenn es sich dann zur Seite streckte und seinen schwarzen Hundekopf gemütlich auf den Steinboden legte, die Schnauze etwas angehoben und die blutunterlaufenen Augen dorthin gerichtet, wo irgendwann die Hand wieder unter dem Tisch zu sehen sein würde. Zwei Pensionäre, die alle Zeit der Erde hatten und sie ohne Skrupel genossen.
Irina kam nur wegen des alten Herrn in das Lokal an den Rive. Für gewöhnlich war die Ausbeute hier gering, wenn sie fast lautlos, als wollte sie sich unsichtbar machen, von Tisch zu Tisch huschte, einen kleinen Gegenstand mit einem gedruckten Kärtchen ablegte und am Ende ihrer Runde alles wieder einsammelte, ohne daß ihre Mimik Enttäuschung verraten hätte. Der alte Herr gehörte zu den wenigen Menschen in ihrem tristen Leben, die freundlich waren. Jeden Abend gab er ihr Geld. Immer war es mehr, als sie von allen anderen erhielt. Nur sentimentale Betrunkene steckten ihr manchmal pathetisch einen Schein zu. Der graue Herr hatte ihr noch nie Münzen gegeben. Er lächelte milde, wenn sie zum Dank scheu winkte, doch hatte er aufgehört, ihr in die Augen zu sehen, als er eines Tages bemerkte, daß es sie verlegen machte. Auch er grüßte nur mit einem kleinen Fingerzeichen, das außer ihr niemand bemerkte. Und danach griff er gleich nach einem Stück Brot und reichte es seinem Freund unter dem Tisch, während Irina ihren Weg an den anderen Gästen vorbei machte und ihre Kärtchen und die Gadgets wieder einsammelte. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ sie das Restaurant.
Nur an diesem Abend lief alles ganz anders. Er fuhr vor Schreck zusammen und stieß sein leeres Glas um, als die junge Frau ihm auf die Schulter tippte und Zeichen machte, die er nicht verstand. Er hatte bereits reichlich Wein getrunken. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand mit einer Nummer drauf und zeigte auf ihn und dann auf sich, machte Zeichen, rollte mit den Augen und stieß verzweifelte Laute aus. Hilflos schüttelte er immer wieder den Kopf. Vielleicht würde er sie morgen, wenn er nüchtern war, zufällig auf der Straße treffen, und sie dann verstehen. Er hatte Mitleid mit ihr und blätterte sein Portemonnaie durch. Kein Schein unter fünfzig Euro. Er drückte ihr einen davon in die Hand, den sie zusammen mit dem Zettel zögernd einsteckte. Auch diesmal blickte sie nicht zurück, als sie das Restaurant verließ.
*
Doktor Galvano, der ehemalige Gerichtsmediziner Triests, der mit zweiundachtzig Jahren zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden und bis heute darüber beleidigt war, machte sich keine weiteren Gedanken über die junge Taubstumme. Er gab ihr Geld, weil er sich an sie gewöhnt hatte. Einsamkeit verbindet. Ein Gefühl, an dem auch der schwarze Hundebastard nichts änderte. Er hatte das Tier von Proteo Laurenti übernommen, der weder über die nötige Zeit verfügte, noch die Aufmerksamkeit aufbrachte, die ein solches Tier brauchte. Das zumindest war Galvanos Auffassung, die er Laurenti eines Abends unverblümt an den Kopf geworfen hatte. Höfliches Taktieren war seine Sache nicht.
»Was willst du eigentlich mit dem Vieh«, rief Galvano plötzlich während eines der Abendessen, zu denen ihn die Laurentis oft einluden, aus Sorge, der Alte würde vereinsamen. »Du verstehst nichts von Hunden, du verstehst eigentlich überhaupt keine Kreatur! Deine Frau kann ihn nicht ausstehen, und vor ein paar Monaten wurde er um ein Haar ins Jenseits befördert, weil du dich nicht um ihn gekümmert hast. Ich nehme ihn dir ab, und bei euch kehrt endlich wieder Frieden ein. Glaub mir, es ist für alle das beste.« Dabei zwinkerte er Laura verschlagen zu, in der Hoffnung, daß sie ihn unterstützte. Schließlich war sie es gewesen, die Laurenti gezwungen hatte, den Hund mit zur Arbeit zu nehmen oder umgehend wieder dort abzuliefern, wo er ihn herhatte. Dieser Köter beleidigte ihren Sinn für Schönheit. Laura war noch immer auf der Suche nach einem Tier für sich allein, einem Golden-Retriever-Welpen oder einem Bobtail, Hauptsache, das Fell war weich und flauschig und der Hund anschmiegsam. Eine Hündin natürlich, kein pensionierter schwarzer Bastard, der sein Leben lang Spuren gesucht oder Drogen geschnüffelt hatte, und den am Ende seiner Karriere niemand außer ihrem Mann haben wollte. Als der Hund dann bei einem Einsatz, zu dem Laurenti ihn
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