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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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Ruderschlägen fuhren sie zwischen den Segelbooten hinaus und wenig später vorbei an den Schiffen der Guardia di Finanza und der Carabinieri. Erst nachdem sie das offene Hafenbecken vor der Stadt erreicht hatten und sich außer Hörweite der Rive befanden, legten sie sich in die Riemen und nahmen rasch Fahrt auf. Das Meer war glatt wie ein Spiegel, kein Lufthauch, keine Wellen. Nach einer halben Meile hielten sie sich dicht an der Innenseite der Diga Vecchia, bis sie auf der Höhe des Molo 0 waren. Hier war das Schiff nach Libanon vertäut, auf das am Morgen das gequälte Vieh getrieben würde, das jetzt noch verletzt, geschunden und halb verdurstet in einem Speicher auf sein Schicksal wartete.
    Sie hielten einen Augenblick inne, um Atem zu holen und die Lage zu sondieren. Nichts regte sich. Weder waren Angler an der Mole zu sehen, noch brannte Licht auf dem Schiff. Ein Blick durch das Nachtsichtgerät signalisierte freie Fahrt. Natürlich waren keine Wachen an Bord. Was sollte im Alten Hafen von Triest schon passieren, der seit Jahrzehnten vor sich hin schlummerte?
    Mit lautlosen Ruderschlägen zogen sie die nächsten hundert Meter durch, bis unter den blau gestrichenen Rumpf des Viehtankers, legten die Riemen ans Boot und stabilisierten sich so gut es ging mit dem Magneten, den sie aus dem Baugeschäft des Vaters eines Freundes entwendet hatten. Klebeband fixierte die Schablone. Das Zischen der Spraydose war das einzig vernehmbare Geräusch. Es kam ihnen vor, als müßte es bis weit über das Meer zu hören sein. Mit einem Kopfnicken verständigten sie sich und stießen von der Bordwand ab. Das nächste Ziel war das mit bunten Lichtergirlanden überzogene Kreuzfahrtschiff der Emerald-Line, das an der Stazione Marittima lag. Sie mußten schnell sein, denn der strahlend weiße Rumpf bot wenig Tarnung. Als sie abstießen, betrachteten sie ihr Werk mit Wohlgefallen:
    Risiera – Auschwitz. Vieh aus Deutschland für den Nahen Osten. Mörderische Transporte. Wer Tiere quält, bringt auch Menschen um. Für bewußte Ernährung.
    Kaufen Sie kein Fleisch aus Massenzüchtungen. Sie schaden Ihrer Gesundheit.
    MUCCA PAZZA
    Nur bei der Kuh mit der Kalaschnikow waren die Ränder ein bißchen unscharf. Aber sie sah trotzdem gut aus.
    Sie fuhren zurück in die Sacchetta und hielten zuerst neben dem Schnellboot der Guardia di Finanza. Diesmal nahmen sie die gelbe Spraydose. Für die Carabinieri danach die weiße. Sie hielten sich an den Stil der Schiffe. Das war Teil des Spiels. Schön sollte es sein, harmonisch sich den anderen Kennzeichnungen anpassen und so offiziell wie möglich wirken – es würde schnell genug entdeckt werden.
    Sie hatten es in weniger als einer Stunde geschafft. Die »Tagliamento« war wieder verstaut, das Bootsmagazin verschlossen und der Weg zum »Tender « nicht weit, dem Pub im Gebäude des ehemaligen Bahnhofs am Campo Marzio. Die Tarnung war perfekt. Wer sollte ihnen auf die Spur kommen, wenn sie ein Lokal aufsuchten, das ein bevorzugter Ort der Neofaschisten war? Ein lupenreines Alibi.

Der Geruch von Kaffee
    »Mia, mach auf. Ich weiß, daß du da bist.« Die Stimme der Nachbarin klang energisch und besorgt zugleich. Schon gestern hatte sie immer wieder erfolglos geklopft und an der Tür gerüttelt. Mia hatte sich nicht gerührt, abends kein Licht angemacht und das Fenster verhängt, als sie bei minimaler Lautstärke vor dem Fernseher kniend die Abendnachrichten im Lokalfernsehen angeschaut hatte. Ein paar Archivaufnahmen vom Val Rosandra waren gezeigt worden, weil man dort einen Toten gefunden hatte, über dessen Identität die Behörden noch rätselten. Auch die Todesursache war unklar. Mit Anbruch der Dunkelheit war Mia zu Bett gegangen.
    Gestern hatte sie sich fast nur von Wasser und Tee ernährt, doch nun hatte sie Hunger und aß ein Brot mit Salbeihonig.
    »Mia«, rief Rosalia und rüttelte wieder an der Tür. »Ist Angelo bei dir?«
    Sie hielt den Atem an und unterbrach das Kauen, als könnte man es draußen hören. Es war noch nicht einmal neun Uhr.
    »Ich habe den Kaffee gerochen, Mia. Mach auf!«
    Mia starrte auf das offene Fenster und war dem Weinen nahe. Wie hatte ihr das entgehen können? Sie stützte das Gesicht in die Hände und schüttelte sich, doch dann stand sie auf und öffnete langsam die Tür.
    »O Madonna santa, wie siehst du denn aus? Was ist passiert?« fragte Rosalia.
    »Schlechte Nachrichten aus Australien«, log Mia. »Es ist jemand gestorben. Ich muß nach Hause.« Sie

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