Der Tod wirft lange Schatten
einer wilden Knutscherei stammte sie auf jeden Fall nicht. Bei dem alten Herrn blieb sie etwas länger am Tisch stehen und machte ein paar Zeichen in Gebärdensprache. Mia sah, daß er der jungen Frau einen großen Schein zusteckte und es machte den Anschein, daß ihre Gesichtszüge sich für den Bruchteil einer Sekunde aufhellten. Vielleicht hatten sie was miteinander? Dann drehte sich die Taubstumme abrupt um und sammelte die Kärtchen und Gadgets auf den Tischen, die niemand haben wollte, wieder ein.
Gegen 22 Uhr verlangte Mia die Rechnung und trat hinaus in die warme Nachtluft. Sie wankte ein bißchen. Sie hatte eine ganze Flasche Rotwein zum Abendessen getrunken und danach das Glas Grappa, das der Wirt spendiert hatte, nicht ausgeschlagen. Sie schlenderte einfach auf den Rive weiter. Mia wollte noch nicht nach Hause gehen. Nach solch einem Tag wollte sie sich noch einen letzten Drink gönnen und danach ein Taxi rufen. Gegenüber den Clubhäusern der Ruderer herrschte reger Betrieb vor einer Bar, die sich »Il Gabbiano« nannte. Mia ging hinein und wurde plötzlich angesprochen. Sie drehte sich um und blickte verblüfft in das Gesicht des Notariatsgehilfen.
»Darf ich Sie wenigstens zu einem Glas einladen, nachdem ich Ihnen einen solchen Schreck eingejagt habe?« fragte Calisto und winkte dem Kellner. »Sagen Sie bitte ja. Geben Sie mir eine Chance, es wiedergutzumachen.«
»Was trinken Sie?« Mia deutete auf sein Glas.
»Negroni«, sagte Calisto und hielt das Glas mit einer Mischung aus Campari, Gin und Martini empor. »Der ist vielleicht etwas zu stark für Sie.«
Mia schüttelte den Kopf. »Das gleiche für mich.«
Später wechselte sie zu Caipriña und bestellte danach einen Mojito. Es war heiß, und Mia stürzte die kalten Drinks viel zu schnell hinunter, während sie sich volltrunken mit Calisto unterhielt. Auf einmal war ihr der Mann sympathisch, ein weitgereister Plauderer, der die Karibik liebte und Neuseeland, und auch in Australien war er schon zweimal gewesen. Irgendwann schlug Calisto ihr vor, ein paar Schritte auf die Mole hinauszugehen, frische Luft zu schöpfen und dann an der Bar des Yachtclubs noch einen letzten Drink zu nehmen. Mia hatte nichts dagegen und hakte sich bei ihm unter. Und sie hatte auch nichts dagegen, als Calisto auf einmal seinen Arm um sie legte und sie küßte. Sie dachte nicht mehr daran, daß sie der Assistentin des Polizisten am Nachmittag eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Einbruch gegen Calisto diktiert hatte.
Am nächsten Morgen, ihrem dritten Tag in Triest, erwachte Mia mit einem furchtbaren Kater. In der Nacht war sie mehrfach zur Toilette gelaufen, um sich zu übergeben, und erst gegen Morgen hatte sie einen ruhigeren Schlaf gefunden. Ihr Hals war rauh, und die erste Tasse Tee, die sie in kleinen Schlucken trank, erzeugte erneut einen Brechreiz. Es war elf Uhr, und sie fühlte sich hundeelend. Ein Tag, an dem sie gerne eine Schlange gewesen wäre, die ihre Haut abstreifen konnte.
Ein Glas Alkaselzer trank sie in einem Zug aus. Wie zum Teufel war sie nach Hause gekommen? Hatte sie Calisto aufgefordert, mit ihr zu kommen? Und wenn ja, wann war er wieder gegangen? Hatte sie sich mit ihm wieder verabredet? Hatte sie sich nicht in Sydney vor ihrer Abreise geschworen, so schnell keine Affäre mehr zu beginnen?
Mucca Pazza 2
Es war Zeit für den zweiten Schlag. Die Aktionen mußten rasch hintereinander und spektakulär erfolgen. Wenn Zweifel auftauchen, dann hat man schon verloren. Das gilt für fast alles im Leben.
Sie waren zu viert, als sie im Schutz der Nacht die Tür zum Magazin des »Ruderclubs STC Cannottieri Adria 1870« in der Sacchetta knackten. Der Freizeithafen lag verlassen da, nur an einem Anleger für Gäste brannte noch Licht in der Kajüte einer Yacht, und von den Rive drang der Lärm der Gäste vor den Bars, die seit Monaten den Zorn der Moralisten herausforderten. Sogar ein Sex-Shop hatte an der Ecke eröffnet.
Vor ein paar Tagen hatten sie sich den Hausmeisterschlüssel besorgt und heimlich nachmachen lassen. Routiniert trugen sie die Riemen hinaus und danach die »Tagliamento«, den schnittigen Zweier aus dunklem Tropenholz, der auf dem nächtlichen Meer kaum auffallen würde. Einer stand an den Rive Schmiere, der andere reichte ihnen die Spraydosen und die Schablone und stieß sie vom Anleger ab. Was auch immer an Land passieren würde, dank der Mobiltelefone konnten sie die Rückfahrt so steuern, daß sie unbemerkt blieben. Mit leisen
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