Der Tod wirft lange Schatten
ließ die Tür offenstehen und ging zurück in die Küche.
»Wer?« Die alte Dame legte ihr den Arm um die Schulter.
Mia überlegte einen Augenblick, wen sie nennen könnte, ohne daß es Unglück brachte. »Der Onkel«, sagte sie schließlich.
»Setz dich«, sagte Rosalia. »Das tut mir leid. Kann ich etwas für dich tun?«
Mia schüttelte den Kopf. Die Familie hatte den Bruder ihres Vaters vor über einem Jahr zu Grabe getragen. Das konnte die Nachbarin unmöglich wissen.
»Und du fährst zurück?«
Mia nickte.
»Wann?«
»Sobald ich einen Flug bekomme.«
»Und kommst du wieder?«
»Ich weiß es noch nicht.« Sie schaute der Nachbarin in die Augen. »Ich möchte allein sein, bitte, Rosalia.«
Die alte Frau erhob sich und strich ihr übers Haar. »Nur eine Frage noch: Weißt du, wo Angelo ist?«
Mia schüttelte den Kopf. »Warum?«
»Er ist zwei Nächte nicht nach Hause gekommen und heute steht etwas von einem Toten in der Zeitung. In seinem Alter. Ich mache mir Sorgen.«
»Keine Ahnung«, sagte Mia.
»Er hat gesagt, daß er mit dir ausgehen wollte.«
»Ich habe abgesagt, als die Nachricht von Zuhause kam. Vielleicht ist er mit Freunden unterwegs.«
Rosalia schüttelte den Kopf. »Das hätte er mir gesagt. Ich glaube, ich sollte die Polizei anrufen.«
Sie ging alleine durch den dunklen Flur und zog die Haustür hinter sich ins Schloß. Der Gedanke, daß im Nachbarhaus bald hektischer Betrieb von uniformierten Beamten herrschen würde, machte Mia nervös.
Was hatte sie nur falsch gemacht? Es war doch wirklich nicht ihre Schuld. Angelo war ein netter Kumpel, freundlich und hilfsbereit, aber niemand, mit dem man eine Affäre hatte.
*
Am nächsten Morgen ging es ihr schon etwas besser. Das Alkaselzer hatte sie wieder auf die Beine gebracht, nur ihre Gedanken waren noch etwas konfus. Mia war mit dem Cinquecento nach Barcola gefahren, weil sie hoffte, daß ein Bad im Meer ihr wieder zu einem klaren Kopf verhelfen würde. Sie hatte einen dummen Fehler gemacht und saß in der Klemme. Aufgebracht hatte Calisto sie angerufen und heftig beschimpft, während sie noch immer versuchte, die Geschehnisse der letzten Nacht zu rekonstruieren.
»Warum hast du mich angezeigt?« rief er wütend. »Ich dachte, zwischen uns sei alles klar. Geh sofort zur Polizei und zieh die Anzeige zurück. Oder willst du mich etwa ruinieren?«
»Es tut mir leid«, sagte Mia mit einem Knoten im Hals.
Calisto erzählte, daß er in der Questura verhört worden war und daß seine Chefin getobt hätte, weil er unter Verdacht stand. Sie wollte ihn auf der Stelle entlassen, hatte sich aber schließlich breitschlagen lassen, ihre Entscheidung noch ein paar Tage zu verschieben, in denen er die Angelegenheit zu klären versprach.
»Ich habe dich doch angezeigt, bevor wir uns gestern abend getroffen haben«, sagte Mia entsetzt. »Ich wußte ja nicht...«
»Du mußt dich beeilen. Es geht um einiges.« Natürlich sagte er nichts von seinem Vorstrafenregister und der Gefahr, daß der kleinste Mist ihn in den Knast bringen würde. Die letzten Jahre hatte er sich vorbildlich geführt, das heißt, er hatte sich einfach nicht mehr erwischen lassen. Calisto war vorsichtig geworden, wenn er etwas ausspähte, dafür einen Kunden fand und dann den Auftrag zum Einbruch und Diebstahl gab. Niemals nahm er Ware selbst in Empfang oder berührte sie gar. Er nahm nur das Geld entgegen.
»Wann sehen wir uns?« fragte Mia.
»Ruf mich an, wenn du mit der Polizei gesprochen hast.« Calisto legte auf.
Mia war ratlos. Warum gefiel ihr dieser Mann, der kein einziges zärtliches Wort gesagt hatte. Als wäre nichts zwischen ihnen passiert. War das der berüchtigte Latin Lover, vor dem alle Freundinnen in Sydney sie gewarnt hatten? Am liebsten wäre sie direkt zu Laurenti gegangen, um zu erklären, daß alles nur ein Irrtum war. Aber der hätte ihr sicher ein Loch in den Bauch gefragt und sie nur »brutta figura« gemacht. Sie mußte eine Begründung finden, die man ihr abnahm.
Das Bad im Meer hatte ihr Selbstbewußtsein wiederhergestellt. Sie würde sich damit herausreden, daß sie eine Fremde war. Sie startete den Wagen, doch nach wenigen Metern fing der Motor des Cinquecento an zu stottern und starb schließlich ab. Sie rief ihren Nachbarn an und fragte, in welche Werkstatt sie das Auto schleppen lassen sollte. Schon eine Viertelstunde später hielt er mit seinem Lieferwagen vor dem Fiat und erklärte ihr, er würde den Floh nach Hause bringen und
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