Der Tod wirft lange Schatten
sich zu ihnen an den Strand zu gesellen. Er würde sich erst später sehen lassen, wenn auch die Kinder da wären und die ungebremste Frauenpower ihn nicht alleine träfe.
Laurenti schnappte sich ein Badetuch und den Moby Dick , der schon zu lange auf seiner Liste der ungelesenen Klassiker stand, und nahm die Schlüssel von Lauras Vespa vom Brett. Ein paar Minuten später war er unten an den Filtri und plauderte mit der emsigen Wirtin des »Bellariva«. Er trank ein Glas gespritzten Weißwein mit einem Schuß Campari und ging dann am kleinen Hafen vorbei, den er am Morgen noch vom Wasser aus observiert hatte, zum Strand Liburnia, den vor Jahrzehnten die Nudisten für sich erobert hatten. Viele der Badegäste zog es bereits wieder nach Hause an den Trog, und Laurenti fand bald einen Platz, der weit genug von den anderen entfernt war. Er zog sich aus und schwamm hinaus. Er brauchte Erfrischung und Ruhe, um zu verstehen, was an diesem eigenartigen Tag alles auf ihn heruntergeprasselt war. Insbesondere die Erzählung Orlandos stieß ihm sauer auf.
Laurenti konnte sich nicht auf das Buch konzentrieren. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er die Seiten umblätterte, einen Satz las und feststellen mußte, daß er von der vorherigen Seite nichts behalten hatte. Er klappte das Buch zu und schloß die Augen. Orlando hatte zum Abschied noch eingeräumt, daß sich seine Behörde nicht vollständig an die Weisung von oben hielt. Sie führten Buch über die Ein- und Ausfahrten des Schlauchbootes. Er würde ihm gerne eine Kopie davon machen. Unter Freunden. Doch was nutzte sie schon? Was zum Teufel ging da vor? Was war in den Kisten drin?
Keine Drogen, keine illegalen Einwanderer und auch keine Schmuggelware, die man in Italien absetzen konnte, denn die Damen brachten nichts mit. Und was gab es noch in die andere Richtung zu schmuggeln? Natürlich waren es keine Bluejeans mehr oder Kaffee, wie in der Zeit, als Tito sein Land noch zusammenhielt und die Jugoslawen sich in Triest mit allem eindeckten, was zu Hause fehlte. Also blieben Waffen, Geld oder Dokumente. Aber weshalb waren selbst die feinen Herren vom Geheimdienst informiert? Und noch etwas bereitete ihm Kopfzerbrechen. Laura hatte ihn im Büro angerufen, weil sein Sohn letzte Nacht in eine Schlägerei verwickelt war. Sein Auge war halb zugeschwollen. Doch Marco wollte partout keinen Arzt aufsuchen. Auch zu Hause wollte er nicht bleiben. Er müsse zur Arbeit, habe er gesagt. Ausfälle durfte es in der Hochsaison in seinem Job nicht geben. Mit wem hatte sich der Junge geprügelt? Marco läßt sich blutig schlagen, Livia läßt sich beim Sex erwischen und die andere Tochter treibt es auf einem Prominentenföhn. Eine neue Familie hatte sich in seinem Haus versammelt.
Die Sonne war nur noch ein halber, tiefroter Ball, in dessen Mitte der Campanile des Doms von Aquileia als schwarzer Zeiger die volle Stunde anzeigte. Nur noch einige wenige Menschen waren am Strand zu sehen. Er zog sich an, packte seine Sachen zusammen und ging langsam zurück zum »Bellariva«, auf dessen vollbelegter Terrasse direkt am Meer Hochbetrieb herrschte. Ganz wie zu Hause, wo Laura, die Kinder und die Gäste bereits um das Grillfeuer versammelt waren.
*
Der linke Arm schmerzte höllisch. Die Stelle, wo er sie mit der Zigarette verbrannt hatte, näßte, und der Bluterguß am Oberschenkel zeigte sich als ein handtellergroßes blauschwarzes Mal. Irina hatte kaum geschlafen. Sie konnte sich nur mit Mühe ankleiden. Ihre Mitbewohnerinnen kümmerten sich nicht um sie, sondern verließen das Zimmer wie jeden Morgen zur gleichen Stunde, um sich auf den Weg zu machen. Selbst den Rucksack konnte sie kaum aufsetzen, als sie zwei Stunden später als sonst ihre Tour wieder aufnahm. Schwer hinkend.
Der Chef hatte sie letzte Nacht vor den Augen der anderen übel zugerichtet. Beinahe hätte er ihr die Finger gebrochen, doch nach den Schlägen mit einem Stuhlbein, das er in seiner Wut abgerissen hatte, hatte er sich damit begnügt, ihr den Arm soweit auf den Rücken zu biegen, bis sie vor Schmerz ohnmächtig zu Boden gefallen war. Er hatte ihr das Geld abgenommen und zum Abschied die Tür hinter sich ins Schloß geworfen, daß die Wände wackelten.
Er hatte sie beobachtet, und sie hatte es nicht bemerkt. Sie hatte sich am vergangenen Abend im »Nastro Azzurro« schüchtern an den alten Herrn gewandt, weil sie davon überzeugt war, daß er für sie mit dem Einlieferungsschein zum Bahnhof gehen könnte,
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