Der Tod wirft lange Schatten
ein Anruf um kurz vor Fünf. Merkwürdige Dinge passierten derzeit in der Stadt.
Das Coroneo, die Haftanstalt, bildete zum Komfort aller Beteiligten mit dem Gerichtspalast eine architektonische Einheit, in dem auch alle drei Gerichtsinstanzen untergebracht waren. Niemand hatte weite Wege, weder die Beamten und Richter noch diejenigen, die im rückwärtigen Gebäudeteil Vollpension bei gesiebter Luft genossen. Die räumliche Nähe hatte große Vorteile, selbst wenn alarmierende Dinge passierten.
Laurenti war der Letzte, der den Raum betrat. Sie saßen in dem riesigen Büro des Gerichtspräsidenten, um die Maßnahmen zu besprechen, während Vollzugsbeamte und Angehörige der Spezialabteilung den Gefängnistrakt auf den Kopf stellten. Fünf Personen belegten eine Gruppe blauer Ledersessel und Sofas, die den Eindruck machte, als entstammte sie einem Versandkatalog zur Ausstaffierung von Provinzbühnen. Auf den Armlehnen klebten deutlich sichtbar Aufkleber mit der Inventarnummer. Es schien, als sollten sie jeden Augenblick hinausgetragen werden. Hinter dem Schreibtisch des Präsidenten waren drei Fahnen drapiert: Europa, Italien, Triest.
Der Questore tobte. »Es ist doch nicht zu fassen! In den letzten vierzig Jahren haben es nur zwei geschafft, aus diesem Gefängnis zu entkommen, und die wurden innerhalb kürzester Zeit geschnappt.«
Die Angelegenheit war ernst. Eine Gruppe Kosovoalbaner hatte einen Ausbruch vorbereitet, der um Haaresbreite noch verhindert werden konnte. Die Männer waren alle mit dem organisierten Verbrechen verbunden und standen außerdem im Verdacht, während des Kosovokriegs blutrünstig unter der Zivilbevölkerung aufgeräumt zu haben. Die Gefängnisdirektorin hätte unter den herrschenden Umständen eher Lob verdient als diesen Anfall des Polizeipräsidenten, der sonst nie die Stimme hob.
»Ihre Leute pennen! Wie sonst hätten die Gefangenen ein Mobiltelefon einschleusen können? Wir müssen sofort das Personal überprüfen. Irgend jemand steckt mit den Kerlen unter einer Decke.«
»Unmöglich«, protestierte die Frau, der man ansah, daß sie schon die ganze Nacht auf den Beinen war. »Das Gerät wurde in Einzelteilen hereingeschafft. In verschiedene Zellen, um uns abzulenken und den eigentlichen Empfänger zu schützen. Hier schläft niemand, Questore. Sonst hätten wir nichts entdeckt.«
Laurenti hatte sich immer gefragt, weshalb sich jemand freiwillig für die Laufbahn im Gefängnis entschied. Natürlich wußte er, daß dafür eine hohe Qualifikation erwartet wurde. Reichlich Erfahrung im Polizeidienst und ein abgeschlossenes Jura-Studium. Doch über andere zu wachen, noch dazu als Frau in einem Männerknast, das überstieg sein Vorstellungsvermögen. Pervers! Die Gefängnisbeamten hatten einen Scheißjob und genossen im Kollegenkreis wenig Ansehen. Sie standen zwischen allen Fronten, wurden von den Gefangenen gehaßt und von den Ermittlern zur Sau gemacht, wenn ihnen jemand entglitt. Ob durch Flucht oder Selbstmord war einerlei.
»Keine Details an die Presse, bis wir den Sumpf ausgetrocknet haben«, verordnete der Questore trocken. »Die Gruppe wird auseinandergerissen und die Gefangenen werden sofort verlegt. Und dann brauchen wir umgehend ein Screening der Telefonkarten.«
Der Mann von der Spezialtruppe, die für das organisierte Verbrechen zuständig war, nickte gelangweilt. Er hatte schon vor dieser Sitzung die notwendigen Schritte veranlaßt. Im Moment durchsuchten seine Männer Zelle für Zelle und sorgten für heftige Unruhe unter den Gefangenen. Es ging um viel: Seine Abteilung hatte erst vor kurzem bekanntgegeben, daß die Cosa Nostra den Balkan fest im Griff habe und sich dabei nicht nur um den organisierten Schmuggel kümmerte. Die Angelegenheit beherrschte inzwischen sogar die politischen Alltagsschlachten der italienischen Innenpolitik, und die Geheimdienste hatten vor zwei Jahren schon einmal die Triestiner Behörden in dieser Sache gestoppt. Das Projekt Europa war von Mafia und Camorra längst erfolgreich installiert, als man in Brüssel noch über die Modalitäten der Erweiterung stritt.
Italien, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien und der Rest des ehemaligen Jugoslawiens, Österreich, Schweiz und das Vereinigte Königreich. Nur die Deutschen träumten noch mit naiver Überheblichkeit davon, mit allem nichts zu tun zu haben: Krieg und Schmuggel, UN-Embargo und Profiteure, Geldwäscher, Menschenschleuser, Waffenhändler, Mafiosi, Banker und Politiker, Staatschefs und
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