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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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ohne in Gefahr zu geraten. Doch der Mann hatte sie nur mit großen Augen angestarrt.
    Schon der Versuch, mit jemand anderem Kontakt aufzunehmen, setzte Schläge. Und jetzt hatte sie Angst, daß sie bald in eine andere Stadt geschickt würde. Bisher war es immer so gewesen, wenn sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen.
    Die Gepäckaufbewahrung im Hauptbahnhof schloß wie jeden Abend um zwanzig Uhr, obwohl noch Züge ein- und ausfuhren. Eine unfreundliche Geste, mit der man die ständig wachsende Zahl an Touristen für ihr Interesse an der Stadt bestrafte. Leserbriefe kreideten diesen Mangel oft genug an, ebenso wie die Tatsache, daß die Parkgebühren links auf den Rive an einem anderen Automaten bezahlt werden mußten als für den Parkstreifen vier Meter weiter rechts. Die Stadt war politisch geteilt in links und rechts, so sollte es wohl auch für die Parkplätze gelten. Die Verantwortlichen in der Stadtregierung kümmerten sich nicht darum. Sie hatten Dienstwagen und Chauffeur, und wer sein Gepäck aufgeben mußte, war ohnehin nicht ernstzunehmen.
    Irina betrat die Bahnhofshalle kurz vor zwanzig Uhr. Eine kleine Schlange Reisender hatte sich vor dem Schalter gebildet. Sie stellte sich hinten an. Als ihr auffiel, daß der Mann am Schalter bei jedem Gepäckschein, der ihm hingehalten wurde, aufblickte und den Kopf schüttelte, war sie bereits an der Reihe. Sie zeigte den Schein vor, den sie in Bagnoli zusammen mit den Dokumenten gefunden hatte, ließ ihn aber nicht los. Als der Mann die Nummer sah, blickte er auf und nickte, aber es galt nicht ihr. Irina drehte sich um und sah, wie sich ein dicklicher junger Mann von der Mauer löste, an der er bisher gelehnt hatte, und auf sie zu kam. Irina verstand augenblicklich. Sie riß den Schein an sich und rannte los. Ein Blick über die Schulter genügte, um zu erkennen, daß auch der Dicke sich in Bewegung gesetzt hatte. Irina bahnte sich den Weg durch eine Gruppe Reisender und stürzte auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. An der Haltestelle auf der Piazza Libertà schlossen sich gerade die Türen eines Busses. Irina klopfte an den Einstieg beim Fahrer, der tatsächlich noch einmal öffnete. Sie sprang die zwei Treppen hinauf und der Bus fuhr an. Ängstlich blickte sie aus dem Fenster und sah den Dicken noch fünfzig Meter hinterherrennen, bevor er mit hängenden Armen aufgab. Er drehte sich um und winkte einem Taxi, das sich nur langsam den Weg durch den fließenden Verkehr bahnen konnte. An der nächsten Haltestelle stieg sie in einen anderen Bus. Sie drückte sich in ihren Sitz bis unter die Fensterkante und richtete sich erst wieder auf, als das Fahrzeug Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Langsam ging sie nach hinten. Ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen. An der Piazza Goldoni verließ Irina den Bus. Ihr Bezirk, den sie auch an diesem Abend beackern mußte. Immer wieder blickte sie sich um, als sie durch die Straßen ging, und sondierte bereits am Eingang der Lokale ängstlich die Gäste, bevor sie ihre Runde machte. Noch vor zweiundzwanzig Uhr beschloß sie, für heute Schluß zu machen. Das Zentrum war zu überschaubar, sie fühlte sich nicht sicher genug. Das entgangene Geschäft mußte sie in den kommenden Tagen wiedergutmachen. Nur ein Lokal wollte sie noch aufsuchen. Der Alte, der jeden Abend im »Nastro Azzurro« saß, könnte ihr vielleicht helfen. Denn eines war klar: Das Stück Papier, das sie in der Tasche hatte, war der Schlüssel zu einer größeren Sache, die sie alleine nicht bewältigen konnte.
    Aber dann lief alles schief. Die Karaffe Wein auf seinem Tisch war leer, der Mann vermutlich betrunken. Er begriff einfach nicht, daß sie seine Hilfe brauchte. Verlegen schnitt er eine Grimasse, die wie ein Lächeln aussehen sollte, und blättere mit unruhigen Fingern die Scheine in seinem Portemonnaie durch. Irgend etwas sagte er, als er ihr einen Fünfzig-Euro-Schein zusteckte. Ein Wochenlohn! So viel hatte ihr bisher noch niemand gegeben. Irina zögerte einen Augenblick, bevor sie ihn annahm. Sie mußte den Mann bei einer anderen Gelegenheit erwischen. Auf der Straße. Nicht in einem Lokal, wo sie nur für ein paar Minuten geduldet wurde.
    *
    Der Schlaf hing ihm tief in den Knochen, denn er war spät zu Bett gegangen. Proteo Laurenti war kein Frühaufsteher, und viel zu oft war das Schicksal stärker als sein Schlafbedarf. Zum zweiten Mal hintereinander war er zu früh auf den Beinen. Gestern, um zur Marina di Aurisina hinüberzuschwimmen, heute kam

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