Der Tod wirft lange Schatten
finden, die Botschaft zu entschlüsseln.
*
Proteo Laurenti sprach mit dem Wirt in der »Bar Sport« in Servola, der sich darüber aufregte, daß schon wieder ein Polizist nach dem Vorfall zwischen Calisto und Angelo fragte. Widerwillig antwortete er, lärmte mit dem Geschirr und bediente nebenher die anderen Gäste. Seine spärlichen Aussagen unterschieden sich kaum von dem, was Rosalia und Sgubin bereits berichtet hatten. Bis auf ein Detail: Angelo habe in jenen Tagen ständig von seiner neuen Freundin geschwärmt. Die junge Australierin, von der inzwischen jeder im Dorf wußte. Doch war sie nie mit ihm aufgetaucht, sondern nur mit Calisto. Turtelnd und lachend. Sogar auf der Straße habe sie ihn geküßt. Angelo hatte sich zum Narren gemacht und keiner ihm mehr zugehört, wenn er von dieser Mia sprach. Natürlich habe Calisto sie Angelo ausgespannt, und dafür hatte er auch die Abreibung verdient, die ihm Angelo verpaßte. Als Laurenti schließlich sagte, daß Angelo der Tote vom Val Rosandra war, verschlug es dem Mann die Sprache.
»Ich sage nichts mehr.« Er drehte Laurenti demonstrativ den Rücken zu und putzte mit langsamen Handbewegungen die Kaffeemaschine. Klar, daß er Calisto nicht in Schwierigkeiten bringen wollte.
Es war spät, als Laurenti seinen Ausflug nach Servola beendete. Er rief im Büro an, um die letzten Meldungen zu hören. Sgubin sagte, daß Marietta längst gegangen war und daß außer einem Überfall einiger Rechtsradikaler auf die Gepäckaufbewahrung im Bahnhof nichts vorlag. Die drei konnten rasch festgenommen werden und saßen längst in der Questura, wo ihre Personalien aufgenommen wurden. Die Nacht würden sie im Knast verbringen.
Laurenti verspürte Hunger. Er mußte lange warten, bis zu Hause Patrizia das Telefon abnahm. Laura saß mit Freundinnen im Garten, was Unheil bedeutete. Weitere Minuten verstrichen, bis sie sich endlich meldete.
»Was hältst du davon, wenn ich dich zum Abendessen einlade?« fragte Laurenti.
»Jetzt ist es zu spät«, sagte Laura. »Wir haben bereits den Grill angemacht. Bis du kommst, ist das Essen fertig. Beeil dich!«
»Ich habe noch zu tun«, log Laurenti, der den fettigen Geruch bereits in der Nase hatte. Er beschloß, seinen Sohn Marco zu besuchen. Vielleicht bekäme er von ihm etwas Anständiges zu essen.
Erinnerungen
Die Müdigkeit war wie eine lange vergessene Erinnerung. Galvano war guter Laune, was für den Rest der Welt nichts Gutes verhieß. Er knipste die Schreibtischlampe erst aus, als der Lärm des Müllfahrzeugs ihn im Morgengrauen daran erinnerte, daß er sich ein paar Stunden Ruhe gönnen sollte. Die Ereignisse jener Zeit waren plötzlich so präsent und klar, daß er kaum mit dem Schreiben nachkam. Wie wild hatte er über Stunden auf die alte Reiseschreibmaschine eingehackt, durch das offene Fenster hörte man das Klappern bis auf die Straße hinunter. Er zündete sich noch eine seiner Menthol-Zigaretten an, bevor er zu Bett ging, und dachte daran, wie das Glück ihm zugespielt hatte. Leise lachte er in sich hinein.
Als er am Nachmittag das Lokal verlassen hatte, war es ihm gelungen, Laurenti eins auszuwischen. Er war mit sich zufrieden, als er die Verlegenheit des Kommissars in dessen Gesicht geschrieben sah. Was kümmerte der Kerl sich immer noch darum, wie andere von ihm dachten? In seinem Alter? Laurenti sollte endlich erwachsen werden. Und er sollte endlich damit aufhören, ihn über Dinge auszufragen, die er mit ein bißchen Mühe selbst herausbekommen könnte. Das war schließlich sein Job. Außerdem war Galvano selbst viel zu beschäftigt. Die ständigen Interviews zum einen, zum anderen das Buch, an dem er seit geraumer Zeit heimlich schrieb, machten schon genug Arbeit. Seine Memoiren. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß es ein Bestseller werden würde. Wer hatte die letzten sechzig Jahre schon durch die Augen eines Gerichtsmediziners gesehen?
Er hatte nicht damit gerechnet, daß die junge Frau mit dem rosaroten Rucksack im Schatten eines Ladeneingangs gegenüber von »Da Giovanni« stand und zu ihm herübersah, als hätte sie auf ihn gewartet. Er winkte ihr zu, doch sie schaute sich lediglich nervös um. Als er an Sant’Antonio vorbei Richtung Piazza Ponterosso ging, folgte sie ihm. Galvano wollte nach Hause und nach einem Mittagsschlaf, der wegen des Essens mit Laurenti ohnehin kürzer als sonst ausfallen würde, die Arbeit am Schreibtisch wieder aufnehmen. Er hatte gerade das Kapitel begonnen, in dem
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