Der Tod wirft lange Schatten
unmittelbar nach seinem Tod obduziert, sondern sieben Monate damit gewartet? Die vier gebrochenen Rippen gingen laut Befund auf das Konto des verrotteten Sargdeckels. Wenigstens ein Vorgang, der nachvollziehbar war.
Das Gros der Akte bestand aus Vernehmungsprotokollen. Man konnte wirklich nicht behaupten, daß die Carabinieri oberflächlich vorgegangen waren. Es schien, als hätten sie alle vernommen, die mit dem Mann zu tun gehabt hatten. Doch fast jede Aussage widersprach der anderen. Es gab abenteuerliche Behauptungen von Schmarotzern, die den exzentrischen Mann nach Strich und Faden ausgenutzt oder bestohlen hatten. Es gab handschriftliche Notizen des Sammlers, in denen er sogar Ehefrau und Kinder bezichtigte, ihn betrogen zu haben. Dabei hatten sie ihn schon lange verlassen. Zwanzig Jahre später wurden der ehemalige Kustode des Museums und der Präsident der Verwaltungsgesellschaft wegen Diebstahls zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sie hatten sich aus der Sammlung de Henriquez’ hinter seinem Rücken eifrig bedient.
Es folgten die Berichte der Wirte der Bars und Trattorien, die der Einzelgänger aufgesucht hatte. Einer erzählte, daß er de Henriquez kurz vor dem Tod Hausverbot erteilte, weil er die Käsestücke, die für den Hund des Wirts bestimmt waren, vom Fußboden aufgeklaubt und gegessen hatte. Offenbar ein Feinschmecker. Ein anderer behauptete, de Henriquez hätte nur Milch getrunken, ein dritter jedoch, daß der Mann angeblich Alkoholiker war.
Dann fand sich ein Foto, das ihn lächelnd in einem Sarg liegend zeigte, ein Bein kokett über das andere geschlagen. Es gab Aussagen über frühere Brände in den verschiedenen Lagern, in denen leichte und schwere Waffen, Uniformen, Bücher, Fotografien und Dokumente in rauhen Mengen untergebracht waren. Man vermutete Brandstiftung.
Zeugen berichteten davon, daß de Henriquez sich schon Wochen vor seinem Tod bedroht gefühlt habe. Er war mißtrauisch gegen jeden gewesen, was ihm, trotz der Pistolen, die er mit sich trug, nichts genutzt hatte.
Immer wieder wurde das Tagebuch Nummer 65 genannt, das in den Protokollen »Tagebuch der Risiera« genannt wurde, in dem der Professor akribisch die in den Mauerputz der Todeszellen eingeritzten letzten Botschaften dokumentiert hatte, bevor unter der alliierten Verwaltung die Mauern gestrichen wurden. Kurz nach der Befreiung Triests wurde das ehemalige Konzentrationslager zum Auffanglager für Flüchtlinge aus Jugoslawien. Es hieß, de Henriquez sei ein unbequemer Zeuge gewesen, den man aus dem Weg schaffte, bevor der Prozeß gegen den ehemaligen Kommandanten der Risiera, Joseph Oberhauser, und seinen Komplizen Konrad Allers begann. De Henriquez habe die Namen der Kollaborateure und der Menschen gekannt, die sich am Eigentum der Deportierten bereichert hatten.
Laurenti rieb sich die Augen und machte ein paar Schritte durchs Zimmer. Warum zum Teufel mußte er sich mit diesem alten Kram beschäftigen?
Noch einmal zwang er sich über die Akte und blätterte lustlos weiter, bis er auf die Aussage eines Schlossers stieß, die ihn irritierte. Der Mann hatte für de Henriquez mehrfach die Schlösser des Lagers in der Via San Maurizio ausgewechselt. Zuletzt gegen ein Sicherheitsschloß von Zeiss, weil der Sammler niemandem mehr traute. Drei Schlüssel hatte der Handwerker ausgehändigt. Doch auf dem Foto im Polizeibericht waren nur zwei zu sehen. Laurenti blätterte zurück und las noch einmal die Berichte der Feuerwehrleute. Unter der eingetretenen Haustür hatte man zwei Schlüssel gefunden. Zeugen schilderten, de Henriquez hätte sie stets an einen Haken an der Tür gehängt, nachdem er abgeschlossen hatte. Sowohl Feuerwehrmänner wie Carabinieri sagten, die Tür sei bei ihrer Ankunft verschlossen gewesen. Eigenartig genug, daß de Henriquez zwei gleiche Schlüssel bei sich trug. Doch wo war der dritte? Und noch etwas paßte nicht. Warum war Pax, der kleine Hund, vor dem Feuer auf die Straße entkommen, de Henriquez aber nicht? Unwahrscheinlich, daß Pax mit dem dritten Schlüssel die Tür geöffnet hatte.
Laurenti machte sich eine Notiz und schlug die Akte zu. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Er beschloß, nach Servola zu fahren, um Angelos Mutter nach dem Strafregister ihres Sohnes zu befragen. In seiner Jugend war Angelo ein häufiger Gast der Questura gewesen, überwiegend Eigentumsdelikte. Verurteilt wurde er nur einmal, weil er mit seinem Fiat Abarth betrunken in eine Polizeistreife gerauscht
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