Der Tod wirft lange Schatten
eine rümpfte sogar die Nase.
»Carpaccio vom Kraken«, fuhr Marco fort. »Papà hat ihn heute morgen erlegt. Sagt er jedenfalls. Danach ein Tartar von der Dorade. Angeblich ebenfalls von Papà gefischt. Soviel Glück haben nur Amateure. Anschließend eine Tempura aus dem Mittelmeerraum, mit einer Brise Curry und von allem, was das Herz begehrt: Zucchini, Melanzane, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, Pilze, Melone, Birnen, Käse, Ananas, Erdbeeren, wilder Spargel und noch vieles mehr. Und zum Schluß ein Sorbetto aus Zitrusfrüchten mit frischem Ingwer, das mir beinahe so gut gelungen ist wie meiner Chefin.«
»Von seiner Mutter hat er das auf jeden Fall nicht«, sagte die beste Freundin Lauras abschätzig.
»Ich bin froh, daß ich ausreichend zu Mittag gegessen habe«, sagte eine andere.
*
»Ich erinnere mich genau. Es war kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag im Mai 1946. Wir wohnten in Barcola, in einer der Villen zwischen Friedhof und Eisenbahn. Ich sollte mit dem Fahrrad ins Friaul fahren und Verwandten ein paar Kleidungsstücke bringen, im Tausch gegen einen Sack Kartoffeln. Wir lebten damals im ›Territorio Libero di Trieste‹, der alliierten Zone, die bis 1954 autonom blieb. Hinter Duino, bei San Giovanni in Tuba, verlief die Grenze nach Italien. Die Sonne stand hoch an diesem sonderbaren Tag, und der Karst war noch ein schroffes, fast kahles Kalksteingebirge mit niedriger Macchia. Der Schotter an den unbefestigten Straßenrändern schillerte grell neben der Fahrbahn. Der Krieg war noch nicht lange zu Ende, und du kannst dir vielleicht vorstellen, was für einen Schrecken ich bekam, als ich bei der Costa dei Barbari plötzlich eine Einheit deutscher Soldaten sah, die mit schweren Waffen in Richtung Stadt fuhren. 1946! Panzerwagen, Geschütze. Sie fuhren ziemlich langsam. Ein paar Männer trugen amerikanische Uniformen, aber das waren wir gewohnt. Gegen Kriegsende hatte man sich auf die äußeren Kennzeichen nicht mehr verlassen können, so mancher Soldat trug die Kleider des Feindes. Ich war fest davon überzeugt, daß der Krieg erneut ausgebrochen war, und trat so fest ich konnte in die Pedale, um zurück nach Triest zu kommen und die Leute zu warnen. War natürlich eine kindische Dummheit, denn fünftausend Engländer und fünftausend Amerikaner hatten die Stadt unter Kontrolle. Nur wer die Zeit vorher durchgemacht hat, kann meine Reaktion verstehen. Als ich keuchend rief, daß die Deutschen kämen, hielten mich alle für verrückt.«
Stefania Stefanopoulos lachte. Sie war eine starkgeschminkte kleine Frau von über siebzig Jahren. Ihr weißes Haar war perfekt frisiert, die Adlernase dominierte ihr sonst feines Gesicht. Mit tiefer Stimme schwelgte sie in ihren Erinnerungen. Neben ihr thronte Marilyn, ein weißer Königspudel, der vermutlich noch mehr Zeit beim Friseur verbrachte als sein Frauchen. Sie war die einzige Person, die Marco selbst zum Abendessen eingeladen hatte. Niemand wußte, wann er mit dieser selbstbewußten Dame, die ein fester Bestandteil der Triestiner Bourgeoisie und eine engagierte Tierschützerin war, Freundschaft geschlossen hatte. Laurenti glaubte, daß sie zu den Stammkunden des Restaurants zählte. Signora Stefania gehörte jedenfalls zu den vielen merkwürdigen Wandlungen, die sein Sohn seit dem Ende des Militärdienstes durchmachte. Es schien, als wüßte der Junge plötzlich, was er wollte.
Von ihrem Berufsleben als Architektin und Professorin an der Universität Turin sprach Stefania Stefanopoulos nie, sowenig wie von ihrem Mann, der vor einigen Jahren verstorben war. Stefania entstammte einer alten Familie der großen griechischen Gemeinde, deren Mitglieder einst als tüchtige Kaufleute zur Blüte Triests beigetragen hatten.
Als Proteo Laurenti sie begrüßte, sprach sie ihn gleich auf die merkwürdige Lagerhalle mit dem Kriegsgerät an und erzählte von ihren Erinnerungen an Diego de Henriquez. Es war still geworden in der kleinen Gruppe, die um die vornehme Dame herumsaß und ihr gebannt zuhörte.
»Niemand wollte mir glauben, aber es dauerte nicht lange, bis man aus der Ferne den Lärm der Motoren und das Rasseln der Ketten auf dem Asphalt vernahm. Dann kamen andere Leute, die die Kolonne bei Miramare entdeckt und ebenfalls die Flucht ergriffen hatten. Ihnen war sowenig wie mir aufgefallen, daß die deutschen Soldaten unbewaffnet waren, die Amerikaner aber sehr wohl. Für einen kurzen Moment war ich rehabilitiert. Doch dann zogen sie an uns vorbei.
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