Der Todesbote
getan hat. Dann hätte er an sich selbst studieren können, was ein Mensch dabei fühlt, wenn ihm dies widerfährt. Sie können sicher sein, dass ich dies getan hätte, und ich hätte den Richter erleben wollen, der mich dafür bestraft.«
»Ich bin mit der Familie verwandt«, mischt sich ein älterer Mann ein. Man merkt ihm an, dass er sich bemüht ruhig zu bleiben. »Ich habe hautnah miterlebt, welches Unglück er über unsere Familie gebracht hat. Noch immer bin ich fassungslos über den traurigen Abschied. Was ich ihm wünsche? Fragen Sie mich nicht. Ich bin kein solches Scheusal wie diese Kreatur. Diese Frage kann ich Ihnen in meinem Schmerz nicht beantworten. Wenn Sie den kleinen Jungen aufgebahrt hätten sehen können, Sie würden mich sicher verstehen. Wie wollen Sie einen Menschen bestrafen, der gar keiner ist? Ich werde zur Verhandlung gehen und ihm in die Augen schauen, diesem gnadenlosen Tier.«
Weinend und immer wieder seinen Kopf schüttelnd, verlässt der Mann das Gespräch.
Onoprienko schreibt eine Symphonie
des Schreckens
Kaum ist die schrille Glocke, die die Frühstücksausgabe ankündigt, verklungen, als sich die schwere Zellentüre des bestbewachten Gefangenen der Strafanstalt Zhitomirs knarrend öffnet. Anatolij Onoprienko stellt seine blecherne Kaffeetasse zur Seite und wartet auf den Befehl des eintretenden Wachbeamten.
»Fertig machen, Onoprienko«, vernimmt der Gefangene.
»Machen Sie sich fertig«, wiederholt der Beamte in unüberhörbarem Befehlston. »Sie werden in Kürze von der Staatsanwaltschaft abgeholt.«
»Darf ich mein Frühstück zu Ende essen? Oder soll ich sofort mitkommen?«, will Onoprienko an diesem Tag ziemlich kleinlaut wissen.
»Ich sagte ›Fertig machen‹, und das meine ich auch so«.
Er hat wohl längst erkannt, wie er sich den Gefängnisbeamten gegenüber zu verhalten hat. Onoprienko schätzt die Stimmung der Beamten täglich neu ein. Längst hat er verstanden, in ihren Mienen zu lesen, denn er hat erkannt, wie wichtig diese Menschen für seine Zukunft sind. Er sieht den grenzenlosen Hass, der gegen ihn gerichtet ist, doch auch das Interesse an seiner Person.
Es ist der 30.08.1996, ein heißer Sommertag in der Ukraine.
Wieder einmal fährt man Anatolij Onoprienko zu einem Tatort, um seine Verbrechen rekonstruieren zu können. Wieder einmal gelingt es ihm, seine Rache an der Menschheit demonstrieren zu dürfen. Er genießt seine unmenschliche Rache an den von ihm verhassten unschuldigen Opfern. Die gesamte Bevölkerung dieses Landes ist schockiert, völlig ausgeliefert einer Bestie, wie es sie nur einmal gibt. Keiner kann verstehen, wozu dieser Täter fähig war. Meist wortkarg nehmen die Ukrainer die Schicksalsschläge des alltäglichen Lebens hin, denn ihre Wutausbrüche verstummen in der Einsamkeit der Ohnmacht.
Und so fährt man diese ungeheuerliche Bestie durch das Land, seine ungeliebte Ukraine. Obwohl er an Händen und Füßen gefesselt ist, grinst er. Er fühlt sich wohl, so als wäre er zu einem Betriebsausflug eingeladen worden. Der Hass der Beamten, die ihn auf seinen Reisen begleiten, nimmt immer größere Ausmaße an. Wer die täglichen Berichte der Tagespresse verfolgt, kann das verstehen. Da heißt es:
»Niemand weiß, wie viele Menschen Onoprienko getötet hat!
Zwölf Kinder hat er getötet – oder waren es mehr? Wird man je das Ausmaß seiner Lust am Töten ergründen können? Wahllos ließ er Leichen an den Orten zurück, die er aufsuchte.«
Heldenhaft versucht Onoprienko zu wirken, wenn er überall von seinen Gräueltaten berichtet. Wieder einmal sonnt er sich an diesem Tag in den Erinnerungen des Unvorstellbaren. Für die Beamten, die ihn zu den Rekonstruktionen seiner Abscheulichkeiten begleiten und ihn beschützen müssen, sind es Tage des Grauens. Wieder einmal ist ein Tag angebrochen, an dem es gilt, Onoprienko seiner Taten zu überführen. Noch einmal gilt es Ruhe zu bewahren, obwohl das Herz der Begleiter zu zerspringen scheint.
Nur die Polizei und die Staatsanwaltschaft wissen, wie die Opfer aufgefunden wurden. Nur ihnen ist bekannt, welche Verletzungen dem Opfer zugeführt wurden – ihnen und dem Täter.
Ein riesiges, für die Ukraine wohl einmaliges Aufgebot an Sicherheitskräften, Beamten der Staatsanwaltschaft, der Sicherheitspolizei und der Miliz ist notwendig, um diese erneute Tatrekonstruktion durchführen zu können. Diesmal müssen sowohl Anatolij Onoprienko als auch die Beamten vor eventuellen Übergriffen
Weitere Kostenlose Bücher