Der Todesbote
weiter: »Eigentlich spricht Onoprienko über die Motive seines mörderischen Treibens nur sehr ungern. Er fühlt sich über den Dingen schwebend. Onoprienko begreift sein Handeln als Mission. Warum er nun gerade Ihnen Rede und Antwort stehen will – niemand in diesem Haus weiß es. Wir sind sehr gespannt.«
Die schauderhafte Realität eines Serienmörders erfüllt die Zelle. Man spürt förmlich, wie der Bann des Bösen ihn umgibt.
Selbstsicher und ohne ein Wort betrachtet Anatolij Onoprienko das Treiben seiner Besucher. Als wäre er diese Situation sein Leben lang gewohnt, beobachtet er den Aufbau der Tonanlage. Als er eine Kamera bemerkt, fragt er wie ein Schauspieler, der darauf bedacht ist, sich von seiner Schokoladenseite zu zeigen: »Ist es gut so, wenn ich mich auf das Bett setze, oder soll ich stehen bleiben während der Aufnahme?«
Die Antwort kommt wie ein Befehl aus dem Munde des Offiziers, dem das Gehabe Onoprienkos offensichtlich missfällt: »Setzen Sie sich auf das Bett!«
Wortlos nimmt er auf seinem Bett Platz. Neugierig betrachtet er die Linse der Kamera. Onoprienko setzt sich in Positur wie ein Leinwandstar. Man würde sich nicht wundern, wenn er nach einem Maskenbildner rufen würde. Er kann es kaum erwarten, dass man ihm die erste Frage stellt.
Unrasiert, die blonden lichten Haare bis auf wenige Zentimeter kurz geschnitten, betrachtet er noch einmal jeden Besucher. Lässig zieht er seine Wollmütze vom Nacken in die Stirn. Onoprienko nestelt ungeduldig an seiner Kleidung und glättet jede Falte seiner Jogginghose. Er scheint auf dieses außergewöhnliche Gespräch vorbereitet zu sein.
Hunderten von ausländischen Reportern war es im Laufe der Monate nicht vergönnt, Onoprienko interviewen zu dürfen.
Niemand hielt es für möglich. Warum er, der sich letztendlich dazu bereit erklären muss, zustimmte? Der Gefangene gibt allen verblüfften Anwesenden seine selbstsichere Erklärung:
»Weil ich die Deutschen liebe!« Ein Lächeln überzieht die verwunderten Gesichter der Sicherheitsbeamten.
»Warum gefällt Ihnen gerade Deutschland, und weshalb lieben Sie die Deutschen?«
»Seit ich 1982 deutsche Menschen kennen lernte, als ich auf den Passagierschiffen gearbeitet habe. Dort habe ich deutsche Touristen bedient und hatte viele freundliche Beziehungen zu ihnen. So wurde ich sozusagen halb deutscher, halb sowjetischer Mensch. Später verschwand die Sowjetunion –
und von mir ist nur die zweite Hälfte übrig geblieben – der Deutsche.«
Onoprienko macht eine kurze Pause und blickt zu den Beamten, als wolle er sagen: »Warum lacht ihr? Ich war schon viele Male in Deutschland, und ihr seid wahrscheinlich noch nie aus dieser Stadt herausgekommen.« Dann blickt er tief in die Augen seines Interviewpartners und fährt mit seinen Ausführungen fort: »Wahrscheinlich gibt es doch ein Übersiedeln der Seelen. Vielleicht war ich ein Deutscher in meinem vorigen Leben. Ich habe eine besondere Vorliebe für Deutsche. Nicht für Amerikaner und auch nicht für Japaner oder Italiener. Die deutsche und französische Sprache gefallen mir von allen europäischen Sprachen am besten … Die griechische Sprache und deren Kultur haben mir gar nicht gefallen, deutschsprachige Länder wie die Schweiz, Österreich und Deutschland ziehen mich dagegen förmlich an.«
» Was halten Sie von dem Charakter der Deutschen?«
»Ich wiederhole nochmals: Ich glaube an das Übersiedeln der Seelen und ich fühle, dass ich in meinem vorigen Leben ein Deutscher war. Dieser Glaube herrscht über meiner Vernunft und zwingt mich, die Deutschen zu lieben. Abgesehen davon, dass die Deutschen mich schon zweimal deportiert haben, liebe ich sie trotzdem. Dagegen hasse ich alle Amerikaner und Japaner usw. Für Deutsche dagegen empfinde ich eine irgendwie unverständliche Liebe. Die Japaner sind weiterentwickelt als Deutsche, die Amerikaner stärker, die Russen dagegen sind schlauer als alle anderen. Jedes Mal, wenn ich das Heim für seelisch Kranke verlassen hatte, flüchtete ich nach Deutschland. Die Deutschen haben mich leider nicht verstanden und schickten mich jedes Mal zurück in die Ukraine, obwohl ich immer versuchte zu vermitteln, ich sei ein Angehöriger der UdSSR. Ich habe die ukrainische Staatsangehörigkeit nicht angenommen. Und weil ich daher ein Angehöriger der Sowjetunion war und Russland jetzt die ehemalige Sowjetunion vertritt, sollte ich eigentlich nach Russland zurückgeschickt werden und nicht in die
Weitere Kostenlose Bücher