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Der Todesbote

Der Todesbote

Titel: Der Todesbote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaques Buval
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schließen sich. Niemand blickt auf dem Weg zum Taxi noch einmal zurück. Man nennt den Namen des Hotels und will den Ort des Grauens vergessen. Niemand spricht ein Wort, und das ist gut so.
    Stunden vergehen. Längst ist man wieder im Hotel angekommen. Man denkt über das nach, was Anatolij Onoprienko zuletzt erwähnte: »Meine Vorstellung von den Menschen: Sie sind wie Sand. Es gibt so viel Sand an den Stränden der Welt. Und genau so sind sie – einfach Sand.«
    Die Sinne sind wieder zurückgekehrt, und plötzlich stellen sich die Worte Onoprienkos in einem anderen Licht dar. Der Globetrotter des Todes lernte auf seinen unzähligen Reisen sicher nicht nur Mormonen, Christen und andersgläubige Europäer kennen. Sein Vergleich der Menschen mit Sandkörnern ist uralt. Schon im Jahre 520 unserer Zeitrechnung brachten Buddhisten aus Indien diese Weisheit nach China.

    1191 wurde dann auch in Japan die erste Zen-Sekte gegründet.
    Das Motto der Zen-Sekte lautet von jeher: »In einem Sandkorn spiegelt sich die ganze Welt …«
    Der große Gelehrte Toshimitsu Hasumi beschreibt die Zen-Kultur so: »Zen ist nichts Besonderes, nur Natur an sich, aber dort liegt das tiefste Geheimnis des Lebens.«
    In der heutigen Zeit sind vor allem die miniaturhaften Zen-Gärten bekannt. Ein Sandkasten in Kleinformat, der auf den Betrachter beruhigend wirken soll. Mittels eines kleinen Rechens können Muster, Formen und Bilder stets neu und individuell im weichen Sand kreiert werden. So werden in China in diesen, meist mit schwarzen Holzrahmen eingefassten Sandkästen kleine Miniaturgrabstätten angelegt. Die Größe der Gräber richtet sich danach, wie nah einem der Verstorbene stand. Will man diesen symbolischen Grabstätten in Kleinformat die nötige Würde verleihen, dekoriert man Halbedelsteine wie Grabhügel auf die einzelnen Felder.
    Dass sich Anatolij Onoprienko womöglich auch mit dem Buddhismus auseinander gesetzt haben könnte, verwundert doch sehr.

    Noch Monate später beschäftigt es einen, wie dieser Mensch auf die Zen-Kultur gestoßen sein mag. Ihn persönlich zu befragen ist nicht mehr möglich, so schreibt man ihm am 21.07.2000:

    Herrn
    Anatolij Onoprienko
    Staatsgefängnis
    ZHIITOMIR
    UKRAINE

    Herr Onoprienko,

    … Meine Bücher wollen das Leben außergewöhnlicher Menschen aufzeichnen, so auch ein für seine Mitmenschen nicht verständliches Leben wie das Ihre. In Ihrem Interview haben Sie erklärt, sie seien nicht freiwillig auf diese Erde gekommen. Sie sagten: »Ich bin hier, um eine Mission zu erfüllen.« Sie fordern Ihre Mitmenschen auf, sich mit Ihren Aussagen zu beschäftigen und sich damit auseinander zu setzen.
    … Sie sind ein gebildeter Mann. In der Isolation mit dem eigenen Leben lassen Sie die Menschheit teilhaben an Ihren Visionen. Die Menschen verstehen Ihre Taten und den Sinn Ihres Tuns nicht. Sie wollen vielmehr begreifen, wie ein Mensch zu solchen Taten fähig ist.
    Wenn ich Ihr »Lebenswerk« und Ihre Taten richtig verstehe, sind Sie ein Täter, der sich nicht in die Reihe der herkömmlichen Serienkiller stellen lässt. Sie sind ein Mensch, dessen Intelligenz und Vorstellungskraft außerhalb unseres Begreifens liegen.
    Sie bezeichnen die Menschen, die Sie getötet haben, als Sand, als Nichts – als Vakuum, als Watte. Und doch haben Sie so viel Energie darauf verwendet, diese Leben auszulöschen? Warum? Lassen Sie mich an Ihren Gedanken teilhaben und verstehen, was in Ihnen vorgegangen ist.
    … Ihre Erkenntnis über das Leben und Sterben eines Menschen als Forschungsobjekt ist außergewöhnlich. Lassen Sie mich verstehen, warum Menschen mit Sand vergleichbar sind. Wo sehen Sie einen Zusammenhang zwischen leblosen Körnern und Menschen, die mit Liebe und Zärtlichkeit gefüllt sind?

    Ich würde mich freuen, baldmöglichst von Ihnen Post zu erhalten.

    Ihr
    Jaques Buval

    Dieser Brief wird von unzähligen staatlichen Behörden und Ministerien der Ukraine geprüft, bis man ihn an Anatolij Onoprienko weiterleitet. Zwischenzeitlich wird Onoprienko jedoch rechtmäßig verurteilt und ist somit kein Untersuchungsgefangener mehr, dem die Möglichkeit des uneingeschränkten Briefverkehrs zusteht. Nun ist Anatolij Onoprienko ein zum Tode verurteilter Gefangener außerhalb jeglichen Rechtes.
    »Anatolij Onoprienko hat nun seine Strafe erhalten, die ihm zusteht. Nun soll er für seine grauenhaften Taten büßen. Er soll Tag und Nacht darüber nachdenken, was er seinen Opfern angetan hat. Er wird keine

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